Das Wasser ist zehn Grad kalt, die See vor der Küste Neufundlands rau. Es ist vier Uhr am Morgen. Niemand weiss, was sie dazu treibt. Sie klettert über die Reling des Schiffs und lässt sich fallen. Die Überwachungskamera zeichnet auf: Lana Kaiser verschwindet am 9. September 2018. Die Schlagzeile geht um die Welt.
Ende August wäre Lana 40 Jahre alt geworden. Die Zeit scheint reif, sich an sie zu erinnern. Und das tun sie, die Medien, die ihren Tod mit verantwortet haben. Lana Kaiser, geboren als Daniel Küblböck, das Medienphänomen der Nullerjahre, der DSDS-Star von Dieter Bohlen, der «schrille Paradiesvogel». 17 Millionen Menschen sassen 2002 bei der ersten Staffel der Mutter aller Castingshows, «Deutschland sucht den Superstar», hauptsächlich wegen Daniel vor dem Bildschirm.
Der Sänger aus dem niederbayrischen Städtchen Eggingen erlebt jetzt seine Rehabilitation, und vielleicht sogar eine Art von Heroisierung – in Fernsehsendungen, einer Doku-Reihe und Podcasts.
Acht Jahre nach dem Tod von Kaiser hat man begriffen: Der Junge, der queer war, bevor viele den Begriff kannten, kämpfte dafür, was Conchita Wurst oder Nemo später mit links glückte. Der Bruch mit den Geschlechterstereotypen der Unterhaltungsbranche.
«Ich fühle mich nicht männlich, ich fühle mich nicht weiblich, ich fühle mich – gut», erklärt er schon 2004 in der Talkshow «Blondes Gift». Host Barbara Schönenberg runzelt die Stirn. Sicher, Daniel trägt bei Auftritten Lipgloss und oft einen Rock (über der Hose). Doch sie hat offenbar keine Ahnung, was ihr das Kerlchen, mit 17 Jahre bekannter als der deutsche Bundespräsident, mitteilen will.
Die Aufarbeitung des Falls Küblböck enthüllt ein Medien- und ein Gesellschaftsporträt in verschiedener Hinsicht. Er erzählt das tragische Leben und Sterben eines empfindsamen Jungen aus zerrütteten Verhältnissen. Sieben Ehen seiner getrennt lebenden alkoholkranken Mutter, 15 Ortswechsel bis er 12 ist. Daniel verfolgt seit Kindheit mit Ehrgeiz ein einziges Ziel, er will ein Star werden. «Die Musik war ihm immer das Wichtigste», sagt sein Vater.
Schwerer wiegt an der späten Würdigung des Künstlers: Die Tragik des sinnlosen Tods beleuchtet den kalten Zynismus und die Vermarktungsökonomie der deutschen Popkultur, der Castingshows, des Trash-TV und des Medienmechanismus der 2000er Jahre.
Der Untergang von Küblböck aka Kaiser stellt klar, wie Big Brother, das Dschungelcamp oder Reality-TV eine ganze Generation geprägt hat. Wie Menschen als «Produkte» vermarktet wurden und wie die Medien in berechnender Absicht sich auf diese einschossen. Auf den blutjungen Daniel Küblböck zum Beispiel, auf sich selbst gestellt zwischen Hype und Hetze. Der Künstler starb lange bevor er als Lana über Bord ging. Er ging zugrunde vor den Augen der Öffentlichkeit am Gift des Mobs, von Hatern und der Boulevardmedien.
2002 war das Jahr, als der 17-Jährige DSDS als Drittplatzierter gewinnt. Er betritt die Bühne, als im Popbusiness noch klare Stereotypen den Ton angeben. Frauen fallen vor sexy Männern leicht in Ohnmacht, Männer hängen sich gerne Poster von Pop-Girls an die Wand, bevorzugt in Dessous. Ist Daniel eine Frau oder ein Mann?
Vielen ist es egal, er ist ganz einfach «süss». «Stand by me» ist sein Lied, mit dem er sich bewirbt, zur Klampfe, die eigentlich nicht erlaubt ist, tritt ein grosses Kind vor die Jury. Das Instrument scheint keine 3.95 Euro gekostet zu haben. Seine Stimme klingt ähnlich teuer.
Singen kann er nicht wirklich. Aber er ist anders, jung und verletzlich. Die queere Community und Stars wie die Dragqueen Olivia Jones (Oliver Knöbel) sagen heute über ihn: «Lana hat für viele Menschen Türe geöffnet, weil sie stolz und mutig nach ihrer Intuition lebte und das Leben liebte.»
Tatsächlich war «Kübi» einer, den man lieben musste, oder hasste. Er war der «Verhaltensauffällige» mit der «Stimme von Kermit, der Frosch».
Daniel Küblböck gewinnt 2003 nicht. Doch keiner der DSDS-Teilnehmenden besitzt augenscheinlich solches Vermarktungspotential wie er: Dieter Bohlen produziert sofort ein Album, es verkauft sich heiss. Bis Thailand wird der Dritte wie ein Weltstar gefeiert. Er bringt ein Parfüm heraus. Er schreibt seine Biografie, «Ich liebe meine Töne». Der in Hollywood-bekannte Deutsche Ulli Lommel dreht eine Doku über ihn.
Doch Küblböck verhält sich zu freakig für seine Zeit. Das perfekte Fressen für jene, die das Business wittern. Stern-TV und RTL beginnen zu hetzen, die «Bild» nimmt ihn sich vor, schreibt über sein «wildes Sexleben» und darüber, dass seine «Mutter im Suff» auf ihn losging. Verleumdungen über «zwei Jahre im Erziehungsheim». Eine ganze Nation scheint die Frage zu stellen: «Ist Küblböck balla balla?»
Er bekommt Morddrohungen, Hasskampagnen werden laut. Er wagt sich nur noch mit zwei Leibwächtern auf die Strasse. In seiner Heimatstadt Eggingen sind es sogar drei. Selbst Oliver Pocher ist sich nicht zu fein und geht in seiner Sendung mit homophoben Witzen auf ihn los. «Kübi» ist Freiwild.
«Ich habe meine eigenen Regeln», sagt dieser unerschütterlich, und frisst in der ersten Staffel von «Dschungelcamp» zur Strafe Kakerlaken. Weil er nicht gewillt ist, das Büssergewand anzuziehen, zeigen ihm die Medien und seine Hater, wo sein Platz ist: ganz unten. In der kurzen Zeit von 18 Monaten wird ein Star gemacht – und erledigt.
Doch er ist eine Kämpfernatur. Er ändert seinen Look, nimmt Gesangsunterricht, singt jetzt mal Country, mal Jazz. Er möchte ernst genommen werden. 2011 zieht er nach Mallorca und trifft dort das, was ihm wohl immer gefehlt hat, eine Mutter. Oder Oma. Vor allem eine «Seelenverwandte», Kerstin Elisabeth Kaiser, Immobilien-Millionärin. Sie adoptiert ihn, er nimmt ihren Namen an. Er beschliesst sein Geschlecht zu ändern und nennt sich von nun an Lana Kaiser.
Lana will beim ESC in Kopenhagen ihre Angepasstheit und Seriosität beweisen, und ihre neue, ausgebildete Stimme. Doch sie schafft es nicht einmal bis zur Vorentscheidung. Die Kränkung ist riesig. Österreich schickt nach Kopenhagen eine Frau mit Bart – ganz Europa feiert Conchita Wurst und die Toleranz!
Lana flüchtet, nimmt in Berlin Schauspielunterricht, scheitert, sucht Halt im Alkohol. Sie nimmt Geschlechtshormone, ohne einen Arzt zu konsultieren. Sie will nach New York.
Deshalb besteigt sie das Kreuzfahrtschiff. Lana im Bleistiftrock und einem Top. Passagiere outen sie als Daniel. Sie rebelliert und will das Schiff verlassen. Das tut sie schliesslich auch. Nach ihren eigenen Regeln geht sie ins Freie.
Hinweis: «Die Küblböck-Story-Eure Lana Kaiser», dreiteilige Dok-Serie auf ARD.
(aargauerzeitung.ch)
Boy George? Pete Burns? Um nur zwei der vielen schrillen Figuren der neongrellen und avantgadistischen 1980er zu nennen.
Zum Glück sind wir heute aufgeschlossen und sowas würde NIE passieren. Die Standards sind jetzt echt hoch👍😉