Leben
Film

«Ich.Bin.So.Glücklich»: Was sich hinter dem Netflix-Film verbirgt

Nur Fiktion? Das steckt hinter dem neuen Netflix-Film «Ich.Bin.So.Glücklich»

Die Verfilmung des gleichnamigen Romans «Ich.Bin.So.Glücklich» stürmt gerade die Netflix-Charts. Der Film liess mich nachdenklich zurück. Und mit der Frage: Handelt es sich um eine fiktive Geschichte? Eine Spurensuche.
13.10.2022, 10:4513.10.2022, 14:27
Mehr «Leben»

SPOILERWARNUNG: Wer den Film noch nicht gesehen hat, wird hier mit Details konfrontiert.

«Ich.Bin.So.Glücklich» – ein zynischer Filmtitel, der mich gleich zum Schauen animierte. Und der ausnahmsweise besser klingt als der Originaltitel: «Luckiest Girl Alive». Die Beschreibung zum Film habe ich nicht wirklich durchgelesen, ich las bloss die Stichworte True-Crime und Journalistin – das triggerte schon genug.

Dass True-Crime sich auf den Film bezieht – und nicht auf einen realen Kriminalfall, realisierte ich erst während des Schauens. Da steckte ich schon zu tief in der Geschichte, die mich mit unerwarteten Wendungen berührte. Denn: Der Film ist keine seichte Unterhaltung. Er greift Themen auf, die mich zum Nachdenken anregten (dazu kommen wir noch).

Am Ende fragte ich mich dennoch: Steckt hinter dem Film tatsächlich nur Fiktion? Da begann ich zu recherchieren.

Aber erst einmal von vorne:

Darum geht es im Film

Ani (Mila Kunis) ist Journalistin bei der Frauenzeitung «The Women's Bible». Fromm ist das Hochglanz-Magazin nicht. Orgasmen und Sextoys beherrschen die Titelseiten – alle geschrieben von Ani. Dies macht sie zum Journi-Liebling der Chefin. Wirklich befriedigend findet Ani ihren Job aber nicht. Sie möchte lieber beim «New York Times Magazin» arbeiten. Doch ihre Chefin verspricht ihr eine baldige gemeinsame Zukunft bei der renommierten Zeitung. Lange müsse sie nicht mehr warten, bis sie an der Spitze einer renommierten Zeitung stehe, verspricht ihre Chefin.

Ihr Privatleben scheint perfekt. Ani steht kurz vor der Hochzeit mit ihrem wohlhabenden Verlobten. Doch ihr scheinbar perfektes Leben beginnt zu bröckeln, als ein Mann wegen eines Interviews für eine True-Crime-Doku bei ihr anklopft.

Die erfolgreiche Sex-Kolumnistin Ani, verkörpert von Mila Kunis.
Die erfolgreiche Sex-Kolumnistin Ani, verkörpert von Mila Kunis.bild: netflix

Denn Ani hat eine dunkle Vergangenheit. Sie leidet unter mehreren Traumata. Als Teenager erlebte Ani Mobbing, sexuellen Missbrauch durch mehrere Jungs an ihrer Highschool sowie ein Schulmassaker.

Denkanstösse

Das Drama greift vor allem ein Thema auf, das meist vergessen geht: das Stigma der Opferrolle. Und wirft Fragen auf wie: Was ist, wenn eine Frau betrunken sexuelle Gewalt erlebt und sich nicht erinnern kann, ob sie Nein gesagt hat?

Denkanstösse, die sich die Drehbuchautoren überlegt haben?

Nein. Der Film basiert auf dem gleichnamigen Roman der amerikanischen Autorin Jessica Knoll aus dem Jahr 2015, der als Ich-Erzählung geschrieben ist.

Die Autorin Jessica Knoll mit ihrem Hund.
Die Autorin Jessica Knoll mit ihrem Hund. bild: instagram

Fiktion oder Schlüsselroman?

Künstlerinnen und Künstler versuchen ihre Traumata oft über Texte, Malerei oder Gesang zu verarbeiten. So rätselten nach der Veröffentlichung von Jessica Knolls Debütroman viele, ob ihr Buch wohl auf eigenen Erfahrungen gestützt ist.

Die Frage blieb lange unbeantwortet.

Bis eine Frau bei einer Buchvorlesung fragte, wie sie die Geschehnisse von sexualisierter Gewalt so realistisch darstellen konnte. Knoll antwortete: «Mir ist etwas Ähnliches passiert wie Ani.»

Tage später veröffentlichte sie ihre Geschichte. Über die Parallelen zwischen ihr und der fiktiven Ani schrieb sie 2016 präzise im feministischen Online-Newsletter Lenny Letter:

«Ani ist 28 in dem Buch. Ich war 28, als ich das Buch schrieb. Wie Ani wuchs ich in einem Vorort auf und besuchte eine kleine private Highschool, wo ich (...) ein bisschen eine Aussenseiterin war.

Als Erwachsene schreibt Ani über Sex für ‹The Women's Magazine›. Die ersten fünf Jahre meiner Karriere war ich Redakteurin bei ‹Cosmopolitan›.»
«Ich weiss, dass ich auf eine Party gegangen bin (…), mit einem Jungen geflirtet habe, von dem ich geblendet wurde, noch mehr getrunken und mich von der wachen Welt entfernt habe. Ich weiss, dass ich auf dem Boden eines Schlafzimmers zu mir kam, den Kopf eines anderen Jungen zwischen meinen Beinen.

Ich weiss, dass mich der Schmerz als Nächstes geweckt hat. Dass ich Au stöhnte, immer und immer wieder, bevor ich überhaupt meine Augen öffnete. Diesmal lag der Junge, mit dem ich zuvor geflirtet hatte, auf mir. Später bemerkte ich, dass ich blutete. Ich weiss, ich war zu jung, um es zu verstehen. Ich dachte, ich hätte mich geschnitten.»
«Ich weiss, dass ich eine Klinik besucht habe, um die Pille danach zu bekommen. Ich weiss, dass ich 15 Jahre alt war und mich nach Führung und Schutz sehnte (...). Die Ärztin, eine Frau, hörte mir stundenlang zu, wie ich die Ereignisse des Abends beschrieb (…). Als ich sie fragte, ob das, was mir passiert ist, eine Vergewaltigung sei, sagte sie mir, sie sei nicht qualifiziert, diese Frage zu beantworten.»
«Ich habe einen Jungen damit konfrontiert, dass er mich vergewaltigt hat. Er sagte, dass man dies nicht so nennen könne. (...) Ich entschuldigte mich daraufhin bei ihm.»

Danach habe sie sich nie mehr getraut, über die Geschehnisse zu sprechen. Stattdessen habe sie Luftschlösser einer perfekten Zukunft gebaut.

«Ich weiss, dass ich, sobald ich frei war, davon besessen war, mich neu zu erfinden (…). Ich war mir sicher, dass ich mit der richtigen Garderobe, einem glamourösen Job und einem Ring am Finger vor meinem 28. Lebensjahr mein Stigma überwinden könnte».

Mit 31 übertraf sie sich dann selbst. Ihr Roman wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt und stand monatelang auf den Bestsellerlisten. Und sie machte mit ihrer Enthüllung – noch vor der grossen #MeToo-Bewegung, die erst durch den Weinstein-Skandal so richtig ins Rollen kam – öffentlich auf das Thema sexuelle Gewalt aufmerksam.

Schlüsselroman wollte sie ihr Buch nicht bezeichnen, denn: Einige Handlungen des Buches, wie etwa das Schulmassaker, seien frei erfunden.

Über ihre Vergangenheit spricht Knoll heute auch in sozialen Medien. So habe sie schon viele Opfer sexueller Gewalt ermutigen können, ihr Schweigen zu brechen, wie sie der Times kürzlich berichtete. Diese Überwindung sei die Heilung gewesen, nach der sie jahrelang gestrebt habe.

Anlaufstellen für Opfer von sexueller Gewalt
Sexuelle Übergriffe können in den unterschiedlichsten Kontexten stattfinden. Hilfe im Verdachtsfall oder bei erlebter sexueller Gewalt bieten etwa die kantonalen Opferhilfestellen oder die Frauenberatung Sexuelle Gewalt. Für Jugendliche oder in der Kindheit sexuell ausgebeutete Erwachsene gibt es in Zürich die Stelle Castagna. Betroffene Männer können sich an das Männerbüro Zürich wenden. Wenn du dich sexuell zu Kindern hingezogen fühlst oder jemanden kennst, der diese Neigung hat, kann dir diese Stelle weiterhelfen.

Die Verfilmung ist seit dem 7. Oktober 2022 auf Netflix verfügbar.

Der deutsche Trailer:

DANKE FÜR DIE ♥
Würdest du gerne watson und unseren Journalismus unterstützen? Mehr erfahren
(Du wirst umgeleitet, um die Zahlung abzuschliessen.)
5 CHF
15 CHF
25 CHF
Anderer
twint icon
Oder unterstütze uns per Banküberweisung.
Das könnte dich auch noch interessieren:
12 Kommentare
Weil wir die Kommentar-Debatten weiterhin persönlich moderieren möchten, sehen wir uns gezwungen, die Kommentarfunktion 24 Stunden nach Publikation einer Story zu schliessen. Vielen Dank für dein Verständnis!
Die beliebtesten Kommentare
avatar
IZO
12.10.2022 20:02registriert März 2019
Geht bitte sofort ins spital und lasst euch untersuchen. Bitte. So habt ihr die grössten chancen beweise sichern zu lassen. Duschen und zwar stunden lang, könnt ihr danach immernoch. Es ist soooo wichtig zeitnah abstriche und blutuntersuchungen zu machen ich kanns nicht oft genug sagen 🙏
753
Melden
Zum Kommentar
avatar
Miicha
12.10.2022 20:03registriert März 2014
Fand den Film gut, aber ist schon heftig, denn das dort gezeigte passiert wohl immer wieder. Nur ja heisst ja!
535
Melden
Zum Kommentar
12
So sieht der Sommer 2024 aus – weil der Böögg nicht brennen wollte

Zürich hält sich gerne für den Nabel der Welt. Und da sein geliebtes brennbares Orakel am diesjährigen Sechseläuten kein Feuer fangen wollte, ist nicht nur die Aufregung gross, auch die Konsequenzen sind bald schweizweit spürbar: Wie soll der Sommer aussehen, wenn es uns der Böögg nicht voraussagen konnte?

Zur Story