Der Moment am Hintereingang eines Restaurants am Rand der Piazza Grande von Locarno ist wohl sowas wie mein Taylor-Swift-Moment: Schock, Euphorie, Gefühlsexplosion, Tränen rasen in meine Augen und wollen raus, ganz knapp kann ich sie zurückhalten. Und sie schaut mich an und sagt: «Hi!» Es ist, als hätten wir uns schon tausend Mal gesehen. Sie ist 70, ihre Haare sind lang und weiss und werden von einem schwarzen Haargummi zusammengehalten; ihr Brillengestell ist schwarz, ihr Lächeln etwas angestrengt, so, als sei es ihr leicht peinlich, einem Fan gegenüberzustehen, der sich offensichtlich in Auflösung befindet.
Jane Campion ist für mich eine Art Traumfrau. Eine Traumfabrikantin. Ihre Filme rissen mich schon mit, als ich eine sehr junge Frau war, und tun es heute noch. Ungeheuer gut erzählte Geschichten, lebendig, dramatisch, drastisch, abgründig, erhebend, tröstlich. «An Angel at My Table», «The Piano», «The Portrait of a Lady», «In the Cut», «Bright Star», «The Power of the Dog» und obendrein die Thriller-Serie «Top of the Lake». Alles gesehen und geliebt. Und alles hat Ablagerungen hinterlassen, Erinnerungen an Gefühle, Impulse, Bilder, Farben. Grüne neuseeländische Landschaften und rotes Haar aus «An Angel at My Table». Blau und Schlamm und Unterwasser aus «The Piano». Ockerfarbige Hügelzüge mit dem Gesicht eines Hundes aus «The Power of the Dog».
«An Angel at My Table», die Verfilmung der frühen Jahre von Janet Frame, Neuseelands grösster Dichterin, die acht Jahre lang in die Psychiatrie gesperrt und mit Hunderten von Elektroschocks gequält wurde, weil man nicht wusste, wohin mit ihrer Fantasie, hat mich in meiner Entscheidung, mein Leben mit Schreiben zu verbringen, mit beeinflusst.
Neuseeland ist nicht gerade einwohnerreich, 3,5 Millionen Menschen weniger leben dort als in der Schweiz. Umso verblüffender ist es, wie riesig die Namen sind, die es in die Filmwelt hinausgeschafft haben: Jane Campion, Peter Jackson («The Lord of the Rings»), Taika Waititi («Jojo Rabbit»), Lee Tamahori («Once Were Warriors») zum Beispiel. Sie sind eng und freundschaftlich verbunden mit den ebenso wichtigen Australiern: Baz Luhrman («Elvis», «The Great Gatsby», «Romeo + Juliet»), George Miller («Mad Max»), Peter Weir («Dead Poets Society»).
Ihren Oscar für die beste Regie gewann Jane Campion vor zwei Jahren mit «The Power of the Dog», dem von Netflix produzierten Western mit Benedict Cumberbatch, Kirsten Dunst und Jesse Plemons. «Es ist SO befriedigend, einen späten Erfolg zu haben», erzählt sie in Locarno, auch wenn sie sich mit Ruhm, Lob und Fans immer schwertut: «Ich bin Neuseeländerin, wenn man uns ein Kompliment macht, kriegen wir Angst und haben das Gefühl, gleich verhaftet zu werden.»
Zweimal ist sie der Angst vor zu viel Lob entkommen. Einmal auf lustige und einmal auf tragische Weise. Als sie 1983 mit «Peel» in Cannes die Goldene Palme für den besten Kurzfilm gewann, war sie gerade nicht vor Ort. Sie und ihr Begleiter waren sich derart sicher, dass sie nicht gewinnen würde, dass sie sich im Hinterland von Cannes bei einem guten Essen vergnügten und keine Ahnung von dem Preissegen hatten. Als 1993/94 «The Piano», der Film über eine stumme Pianistin im 19. Jahrhundert, die verschifft und verheiratet wird und allmählich zu einer erotischen Emanzipation findet, die Welt eroberte und drei Oscars für bestes Drehbuch (Campion), beste Hauptdarstellerin (Holly Hunter) und beste Nebendarstellerin (Anna Paquin) gewann, «hatte ich gerade ein Baby verloren. Ich konnte mich nicht freuen. Ich musste überleben.»
Aufgewachsen sei sie «unter dem Dogma der Bescheidenheit», sagt sie, und wenn sie einen Film drehe, wolle sie «dienen». Einem Stoff, einer Idee, ihren Schauspielerinnen und Schauspielern. «Ich liebe es, anderen zu dienen, ich könnte Ihnen allen jetzt auch Sandwiches servieren.» Materiell und künstlerisch waren ihre jungen Jahre allerdings recht unbescheiden: Campions Mutter war Erbin eines Schuh-Imperiums und gründete gemeinsam mit ihrem Mann das erste Nationaltheater von Neuseeland, er führte Regie, sie verwirklichte sich auf der Bühne. Und ihre Kinder besuchten Universitäten und Kunsthochschulen.
Jane Campion beschreibt ihre Zeit an der neuseeländischen Filmhochschule als naives Eldorado: «Unsere Lehrer kamen nicht vom Film, sie kamen alle vom Fernsehen und drehten dort Naturfilme. Meine männlichen Kollegen stürzten sich auf das Equipment und wollten Actionfilme drehen.» Lauter Möchtegern-George-Millers. Sie selbst dachte eher an Kunst.
Das Filmstudium war damals gratis, die Studierenden erhielten sogar Stipendien, und weil das alles insgesamt eine äusserst befreiende und inspirierende Zeit war, hat Jane Campion jetzt nach dem alten Vorbild eine neue neuseeländische Filmschule gegründet. Inklusive Stipendien. «Ich habe Netflix dazu gekriegt, sie zu finanzieren», sagt sie stolz. Es ist ein Pilotprojekt von Netflix – nach dem Regie-Oscar für «The Power of the Dog», elf weiteren Oscar-Nominationen und einem Grosserfolg beim Publikum brauchte Campion nicht mehr viele Argumente. Und es wird sehr spannend, welche nächste Generation von neuseeländischen Filmwundern dieser Schule entspringen wird.
Auch ausserhalb ihrer Schule weiss sie, «dass Geld für mich da sein wird. Ich bin an einem guten Ort». Früher nahm die Sache mit dem Geld oft krumme Wege. Als sie für ihren ersten Spielfilm «Sweetie» Geld suchte, war da diese Firma, deren Boss sich zwar nicht für Kultur interessierte, aber dachte, dass Kultursponsoring ein guter Weg sei, um seine Steuern zu minimieren. Er fragte Jane Campion, ob sie ihm nicht statt lange über ihren Film zu erzählen bei der Auswahl neuer Bürosessel helfen könne. Das machte sie so überzeugend, dass er sie unterstützte.
Als sie 18 Jahre alt war, hörte sie einen Vortrag der legendären australischen Feministin und Anarchistin Germaine Greer, was ihre Weltsicht grundlegend veränderte. Sie begriff, dass es ein Drinnen und ein Draussen gab und dazwischen eine eklatante Differenz: «An einer Uni ist alles gleichberechtigt. Draussen ist es anders. Geld beispielsweise ist konservativ. Deshalb gehört es den Männern. Heute ist die männliche Mauer der Gender-Dominanz zum Glück gefallen. Dank Greta Gerwigs Milliardenerfolg mit ‹Barbie› vertraut man Frauen jetzt auch richtig grosse Budgets an.»
Sie sieht sich als «Tantenfigur» für junge Filmemacherinnen, und sie ist erlöst, dass es jetzt endlich so viele von ihnen gibt. Sie sind auch der Grund, dass Campion «erst» vor wenigen Jahren einen Film wie «The Power of the Dog» drehte: «Erst als die Girls da waren, andere Regisseurinnen, habe ich gewagt, einen Film über Männer zu machen. Vorher dachte ich, dass ich als eine der wenigen Filmemacherinnen nicht auch noch über Männer erzählen kann.»
Und dann las sie den Roman «The Power of the Dog» von Thomas Savage, der 1967 erschienen war und damals einen Skandal ausgelöst hatte: Es war ein Roman über eine Ranch als Versuchslabor für Menschen und ihre Begehren und «es war der Roman eines homosexuellen Autors, und das kam damals einer Erniedrigung des Western-Genres gleich». Sie fühlte, «dass ich diesem Roman dienen muss». Und mit ihr musste das ihr Team.
Von Benedict Cumberbatch verlangte sie hartes Method Acting: Was er darstellte, musste er sich vorher auch aneignen, er wusch sich wochenlang nicht, rauchte so viele selbst gedrehte, ungefilterte Zigaretten, bis er sich eine Nikotinvergiftung holte und lernte, wie man Bullen kastriert. Alles für Jane Campion. Für diese Frau, die ihre Leute mit aller Autorität zu Meisterwerken bringen kann und die doch so scheu und allzu oft aus lauter Verunsicherung in ein nervöses Lachen ausbrechend vor uns sitzt.
Manchmal stellt sie sich vor, wie es wäre, einfach mal Pause zu machen, «dann denke ich, ich mache Yoga oder Qi Gong oder sowas, aber obwohl ich die Zeit dazu hätte, mache ich natürlich nichts, und dann ploppen auch schon wieder ein paar sehr überraschende Ideen auf.» Sie verspricht uns weitere Filme. Mehr will sie darüber nicht verraten. «Ich bin Neuseeländerin.» Die sind scheu, skeptisch und wortkarg. Und machen Filme, die alles andere sind.