Das steckt hinter «Painkiller», der Netflix-Serie über die Opioid-Epidemie in den USA
USA, 1996. Der Medikamentenhersteller Purdue Pharma beginnt, das verschreibungspflichtige Medikament OxyContin (kurz: Oxy) herzustellen und mit geschickten Marketingstrategien zu bewerben.
Hübsche blonde Pharma-Vertreterinnen fahren in ihren roten Porsches von Arzt zu Arzt, um die neue «Wunderpille» OxyContin zu vertreiben. Ihr Versprechen: Patientinnen und Patienten leiden nicht mehr unter Schmerzen und weniger als ein Prozent der Patienten soll abhängig werden. Dabei lässt Purdue sie immer und immer wieder eine Studie zur Abhängigkeit zitieren – die es aber gar nicht gibt. Das «eine Prozent» wurde aus einem Leserbrief einer Zeitung genommen und es wurde behauptet, das stamme aus einer verlässlichen Studie.
Wie falsch die Versprechen von Purdue tatsächlich waren, zeigte sich zwischen 1999 und 2021, als in den USA über 930'000 Personen an den Folgen einer Überdosis an Opioiden starben. Knapp ein Drittel davon wegen verschreibungspflichtiger Opioide, darunter Oxy.
Netflix erzählt die Anfänge dieser Epidemie, unter der eine ganze Nation leidet. Eine Opioidkrise, die bis heute noch nicht unter Kontrolle gebracht werden konnte.
Was ist OxyContin?
OxyContin besteht aus Oxycodon, ein starkes Opioid mit hohem Suchtpotenzial. Oxycodon wurde von den deutschen Chemikern Martin Freund und Edmund Speyer im Jahr 1916 entwickelt und ein Jahr später als schmerz- und hustenstillendes Mittel auf den Markt gebracht. Die ersten Missbrauchsfälle sind aus den 20er-Jahren bekannt.
Purdue Pharma brachte OxyContin 1996 auf den Markt, und dank der Werbemassnahmen stieg der Umsatz von OxyContin von 44 Millionen US-Dollar (316'000 Verschreibungen von Ärzten) im Jahr 1996 auf einen Gesamtumsatz von fast drei Milliarden Dollar in den Jahren 2001 und 2002 (über 14 Millionen Verschreibungen). Purdue gab allein im Jahr 2001 rund 200 Millionen Dollar für die Vermarktung von OxyContin aus. Es wurden nie Langzeitstudien zur Wirkung von Oxy durchgeführt.
2010 war OxyContin das absatzstärkste Medikament in den USA, seither gehen die Verkäufe zurück, da es stärker reguliert wurde. Süchtige stiegen auf Heroin um, da dies einfacher zu beschaffen war. 2019 meldete Purdue Insolvenz an, da über 2000 Klagen gegen das Unternehmen eingegangen waren und bis zu 12 Milliarden Dollar Entschädigungen hätten bezahlt werden müssen.
Wer ist real, wer ist erfunden?
In der aktuellen Netflix-Serie erinnert der Streaming-Anbieter seine Zuschauenden häufiger als üblich daran, dass die Serie zwar auf wahren Begebenheiten basiere, manche Dialoge und Personen allerdings fiktiv seien. So etwa die FBI-Ermittlerin Edie Flowers, die vom «Orange Is The New Black»-Star Uzo Aduba gespielt wird. Ihr Charakter ist fiktiv, die Figur ist aber von mehreren real existierenden Individuen inspiriert.
Als Edie die Akten eines Arztes wegen Betrugs untersucht, entdeckt sie, dass ein Medikament, von dem sie noch nie gehört hat, auffällig oft verschrieben wird: OxyContin. Sie folgt ihrem Bauchgefühl und deckt auf, dass das Medikament nicht nur auffällig oft von Ärzten verschrieben wird, sondern auch missbraucht wird. In der Serie ist sie die treibende Kraft hinter den Ermittlungen und später hinter dem ersten Prozess gegen Purdue.
Richard Sackler (wird von Matthew Broderick gespielt) hingegen ist sehr real – er, der mächtige Pharmaunternehmer, der tausende Tote in Kauf nimmt, um ein paar Milliarden zu scheffeln. Sackler übernahm nach dem Tod seines Onkels 1987 Purdue Pharma. Zum Zeitpunkt der Vermarktung von OxyContin hatte Purdue bereits seit 15 Jahren ein Schmerzmittel auf Morphinbasis namens MS Contin hergestellt und vertrieben. Unter Richards Führung tauschte das Pharmaunternehmen das Morphin gegen Oxycodon aus, und OxyContin war geboren.
Purdue rekrutierte ein Heer junger, attraktiver Vertriebsmitarbeiterinnen, die Ärzte dazu drängten, Oxy zu verschreiben. In «Painkiller» lernen wir die Vertriebsmitarbeiterin Britt kennen, die die junge Shannon rekrutiert und ausbildet. Britt verspricht ihrer Kollegin ein Leben, von dem Shannon bisher nur träumen konnte: Luxustaschen, schnelle Autos und luxuriöse Wohnungen. Beide Figuren wurden von Netflix erfunden, die Geschichte hinter ihnen ist aber real.
Die Pharma-Vertreterinnen flirten mit Ärzten und überreden diese, ihren Patientinnen und Patienten noch mehr Oxy zu verschreiben. Je mehr Oxy die Ärzte verkaufen, desto mehr Geld verdienen die Vertreterinnen.
Einer dieser Patienten ist in der Serie Glen Kryger, ein weiterer Hauptcharakter. Nach einem Arbeitsunfall verschreibt ihm sein Arzt Oxy – und es geht ihm gut: Er kann wieder arbeiten, sein Familienleben ist in Ordnung. Doch Glen wird bald abhängig von den Pillen, nimmt immer mehr, bis er die Kontrolle verliert und sein Leben aus den Fugen gerät. Seine Figur steht stellvertretend für die abertausenden Familien, die durch Oxy zerstört wurden.
Lohnt es sich, «Painkiller» zu schauen?
«Painkiller» ist nicht die erste Serie, welche die Opioidkrise in den USA thematisiert. Vor zwei Jahren kam «Dopesick» auf Disney Plus heraus und erzählte praktisch die gleiche Geschichte vom Aufstieg der Sackler-Familie. Beide Serien sind strukturell ähnlich, da sie die Geschichte aus den verschiedenen Blickwinkeln von Ermittlern, Pharma-Vertretern, Ärzten und Patienten erzählen. Wer also «Dopesick» gesehen hat, kann sich «Painkiller» sparen.
Die Netflix-Serie basiert auf zwei Quellen: dem Buch «Pain Killer» von Barry Meier aus dem Jahr 2003 und dem «New-Yorker»-Artikel «The Family That Built an Empire of Pain» von Patrick Radden Keefe über die Sackler-Familie. Wer diese Geschichte ohne fiktive Elemente erfahren möchte, ist mit diesen beiden Quellen bestens bedient. Wer lieber eine Doku schauen möchte, findet auf Sky Show «The Crime of the Century».
Wer aber einen unterhaltsamen Einstieg in das Thema wünscht, ist bei «Painkiller» richtig. Die Serie zeigt Abgründe auf, die für die meisten von uns unvorstellbar sind, und schafft das auf eine sehr zugängliche Art und Weise.
«Painkiller» läuft auf Netflix.