Nichts reimt sich so gut auf Shonda wie Anna. Die Rede ist von Shonda Rhimes und Anna Delvey alias Sorokin. Die Superserienmacherin von Netflix und die angebliche deutsche Millionenerbin, die dem leichtgläubigen und glanzsüchtigen New York vor ein paar Jahren das Geld aus den Taschen lockte.
«Inventing Anna» ist möglicherweise Shonda Rhimes' Masterpiece. So dreist, so dreckig, so amüsant und rasant hat die Grossmeisterin des Edeltrashs («Bridgerton», «How to Get Away With Murder») noch nie erzählt. Gut, Folge 8 ist dramatisch missglückt. Und Folge 7 mag durchhängen. Aber der Rest ist bingewürdigstes Serienvergnügen im Overdrive. Was für eine Geschichte! Was für ein Fressen für Shonda Rhimes, die hier wieder einmal als Schöpferin und Autorin amtet. Und Julia Garner («Ozark», «The Assistant») als Anna ist schlichtweg genial.
Anna Sorokin, 31, die sich lieber Anna Delvey nennt, sitzt aktuell im Gefängnis. Also: wieder im Gefängnis. Aus Langweile hat sie gerade einen Kochkurs absolviert und zwei Romane von Jonathan Franzen gelesen, Dinge, für die sie in Freiheit keine Zeit verschwenden würde.
2019 wird sie wegen mehrfachen Betrugs und Diebstahls verurteilt (bis dahin erzählt «Inventing Anna». Im Februar 2021 wird sie wegen guter Führung frühzeitig entlassen. Doch bereits im März 2021 wird sie schon wieder verhaftet, als sie ihr abgelaufenes Aufenthaltsvisum erneuern will. Aktuell kämpft sie gegen ihre Ausschaffung aus Amerika. Anna gilt noch immer als hochgefährlich. Denn Anna ist eine sehr geschickte Hochstaplerin.
Sie gab den Leuten genau das, wonach sie lechzten: Die Illusion, bald einmal Teil von etwas noch nie Dagewesenem, Besonderem, Exklusivem, Privilegiertem zu sein. Hochstapler können das. Ihnen geht es natürlich ums Geld. Und das bekommen sie, weil sie anderen vormachen, ausgerechnet Geld nicht nötig zu haben. Über die Leute am obersten Ende der Gesellschaftsleiter sagt die reale Anna: «Ich fand sie nicht besonders intelligent», und: «Ich habe keine Geduld für die Dummheit der Leute.»
Die Lastwagenfahrertochter Anna Sorokin kommt 1991 in der Nähe von Moskau zur Welt. Als sie 16 ist, zieht die Familie ins deutsche Städtchen Eschweiler, wo sich Depressionen und Braunkohlekraftwerke – «Deutschland ist schlimmer als Gefängnis» – guten Tag sagen. Anna schaut «Gossip Girl», liest Lifestyle-Magazine und hat Hunger. Nach Ruhm. Und sie weiss, dass viele Wege zum Ruhm führen. Nur einen will sie nicht einschlagen. Den eines Sexskandals. Das ist ihr zu billig.
Zuerst reist sie nach London, wo sie einen Studiengang in Mode und Design am Saint Martins College gar nicht erst antritt. Dann nach Paris, wo sie ein Praktikum beim «Purple» Magazin absolviert und sich Delvey nennt. Mit 22 zieht sie aus, um New York zu erobern, wo ihr die New Yorker «Purple»-Redaktion den Zugang zu den Reichen und Einflussreichen ermöglicht.
Zwischen 2015 und 2017 fabuliert sie von einem 60-Millionen-Dollar-Trust-Fund, den ihr strenger Vater noch unter Verschluss halte. Das qualifiziert sie beinahe dazu, von einer amerikanischen Bank einen 22-Millionen-Dollar-Kredit für einen fiktiven Club für Superreiche und angesagte Kulturschaffende einzuheimsen. Sie gibt sich dabei in Telefongesprächen mit verzerrter Stimme als ihr eigener Schweizer Finanzberater aus, der die Richtigkeit ihrer Angaben bestätigt.
New York legt der angeblichen Erbin mit einer naiven Wollust Geld, Privatflugzeuge, Yachten und Wohnungen zu Füssen. Sie schafft es, selbst Betrüger (etwa Billy McFarland, den Erfinder des berühmten Fyre Festivals) zu betrügen. Mit nichts als Worten und dem perfekten Auftreten.
Nach ihrer Verurteilung bezahlt ihr Netflix für die Verfilmung ihrer Geschichte 320'000 Dollar. Mit 200'000 begleicht sie ihre Schulden bei den Banken. Vom Rest bezahlt sie ihren Anwalt Todd Spodak und gönnt sich im Februar 2021 so viel Luxus wie möglich. Teure Hotels, Mode, Treatments. Sie gibt in jenen wenigen freien Wochen so viele Interviews wie andere Prominente in ihrem Leben. Oft mit dabei: ihre Freundin Neffatari Davis, die Neff (Alexis Floyd) aus der Serie.
Davis arbeitete früher als Concierge in einem der gediegenen Hotels, in denen Anna ohne zu bezahlen logierte. Daneben besuchte sie eine Filmschule. Anna wusste, dass Neffatary ihr den Zugang zu exklusiven Clubs, Spas und Restaurants ermöglichen konnte und schmierte sie dafür grosszügig mit 100-Dollar-Noten als Trinkgeld. Sie sagt dazu: «Ich trug nie viel Geld auf mir, nie mehr als ein paar tausend Dollar. Wenn jemand von einer 100-Dollar-Note beeindruckt ist, weiss ich nicht, was ich dazu sagen soll.» Davis kam nie auf die Idee, dass Delvey im Grunde mittellos war, nicht selten hungerte und auf den Rücksitzen von Autos übernachtete, bis sie von ihrer Verhaftung hörte.
Als Shonda Rhimes erfährt, dass Davis selbst Regisseurin werden will, stellt sie diese sofort als Beraterin für «Inventing Anna» ein und macht sie zu ihrem persönlichen Schützling. Ab da besteht Davis' Leben ausschliesslich aus Anna. Jetzt versucht sie sich langsam, aus dem Anna-Kokon herauszuschälen und ihr erstes eigenes Drehbuch zu schreiben. Natürlich mit Unterstützung von Shonda Rhimes. Einen besseren Karrierestart hätte sie sich nicht erträumen können, Anna sei Dank. Logisch, dass Neff in der Serie so zu einer absoluten Sympathieträgerin wurde.
Der an Salzsäure erinnernde, alles verätzende Umgangston, der Anna in der Serie so sehr von allen anderen Figuren abhebt, findet sich auch auf ihren Social-Media-Kanälen wieder. Auch da ist Neffatari Davis – nebst Stylisten und Fotografen natürlich – eine rare Heldin. Alle andern sind verachtungswürdige Kretins. «I write better shit from a prison cell in a day than some of these bitches do with fifty editors in a year», lautet einer von Annas Posts. «Ich schreibe in einer Gefängniszelle an einem Tag besseren Scheiss als manche dieser Schlampen mit fünfzig Redakteuren im Jahr.»
Gemeint ist damit vor allem die Journalistin Rachel DeLoache Williams, die von Anna um 62'000 Dollar für einen Hotelaufenthalt in Marrakesh betrogen wurde, darüber schrieb und schliesslich für Annas (erste) Verhaftung sorgte. Rachel Williams ist in der Serie zunächst das leichtgläubigste Geschöpf von allen, profitiert dann jedoch am ruchlostesten von Anna, indem sie Verträge für Artikel und ein Buch über 600'000 Dollar abschliesst (sie bestreitet dies allerdings).
HBO plante erst, das Buch zu verfilmen, liess die Idee dann aber fallen. Für Anna ist auch klar wieso, Rachel sei «langweilig» und «fad» und ihr Buch «Mist», und im übrigen habe die opportunistische «Märtyrerin» ihr und ihrem Anwalt mehrfach vorgeschlagen, gemeinsam ein neues Buch zu schreiben, teilt sie am 21. Februar 2022 in ihrer Insta-Story mit. Die Story klingt beleidigt und steht im Widerspruch zu dem, was sie eine Woche zuvor in einem Interview mit der «New York Times» gesagt hat: «Ich habe meine Social-Media-Aktivitäten immer als Satire betrachtet.»
Mit den «Schlampen» ist aber auch Jessica Pressler (in der Serie heisst sie Vivian Kent) gemeint, jene andere Journalistin, der Anna ein Exklusivinterview für das «New York Magazine» gab (in der Serie heisst es «Manhattan», die Büroräumlichkeiten sind nach der Originalvorlage eingerichtet worden). In der Serie verbindet die beiden eine Hassliebe: Anna ist die streetsmarte Sadistin, Vivian die mit mehr Peitschenhieben als Zuckerbroten zugerichtete Multiplikatorin. Die Multiplikatorin von einer, die sich alles zutraut und die darüber jede rationale Selbsteinschätzung verloren hat.
Und während sich die echte Williams lauthals darüber beklagt, wie schlecht sie in «Inventing Anna» wegkommt, beklagt sich die echte Delvey/Sorokin aus dem Gefängnis heraus, wie schlecht sie dort während ihrer Covid-Erkrankung behandelt wurde. Und wie grauenhaft langweilig es da drinnen ist, während sich draussen alle auf ihre Kosten amüsieren. Letztes Jahr behauptete sie noch, die Zeit im Gefängnis sei eine unbezahlbare Erfahrung gewesen, die sie sehr viel Nützliches gelehrt habe. Alles musste damals in ein Erfolgsnarrativ eingebunden werden, selbst die Bestrafung.
«Was Sie in der Netflix-Show nicht sehen werden», schreibt sie auf «Insider», «ist meine neue Gewohnheit. Ich muss methodisch auf die Haut um meine Fingernägel beissen, bis sich die Nagelbetten langsam von beiden Seiten mit Blut füllen, bis genug da ist, um in das Waschbecken meiner Zelle mit den undurchsichtigen, weiss gesprühten Fenstern zu tropfen. Abspülen und wiederholen. Das führt zu nichts Greifbarem, ausser dass es die obsessive Fixierung auf einen weiteren verschwendeten Tag, den ich nie wieder zurückbekomme, abschwächt.»
Das klingt deprimierend. Ist aber vielleicht auch nur ein weiterer Stunt, eine weitere, gut klingende Geschichte für ihre Fans. Denn Anna wird verehrt wie alle guten Hochstapler. Ihre Faszination sei die «Doppelhelix aus Verurteilung und Bewunderung» schreibt die «Zeit». Das gilt für den Tinder Schwindler, den talentierten Mr. Ripley und für Thomas Manns reizenden Felix Krull. Oder für die mutmasslichen Bitcoin-Diebe, die von Netflix bereits als neues Unterhaltungsfutter auserkoren wurden.
Wie alle Hochstaplerinnen und Hochstapler ist Anna vor allem eins: Eine Narzisstin ohne jede Einsicht. «Ich sehe meinen Fall keineswegs als Verbrechen», sagte sie letztes Jahr in einem TV-Interview. Schliesslich hätten ihr alle freiwillig Geld gegeben. Das können so auch Enkeltrickbetrüger sagen. Gestohlen ist es trotzdem. Doch Anna erleichterte mit Ausnahme von Rachel Williams ausschliesslich sehr reiche Menschen, deren Job es ist, andere davon zu überzeugen, sehr viel Geld zu bezahlen. Zu investieren. Zu spenden. Wie immer man das beschönigen will. Bereuen tut sie einzig die Folgen.
Wie teuer «Inventing Anna» ist, wurde von Netflix noch nicht verraten. Schätzungsweise sehr teuer. Gedreht wurde meist an Originalschauplätzen (etwa im Hotel La Mamounia in Marrakesh), hinter den nachgebauten Kulissen stehen die teuersten Innenarchitekten der Welt, für die Mode war einer der begehrtesten Einkäufer und Berater der New Yorker High Society zuständig, die Serie selbst ist ein Luxusprodukt.
«Wieso ziehen die mich so gut an?», fragte Anna ihre Freundin Neffatari bei einem ihrer Gefängnisbesuche. «Weil es eine Shondaland-Produktion ist», antwortete Neff. Und in Shonda Rhimes Shondaland ist um der Unterhaltung Willen alles noch dichter, schneller, bunter und glänzender als in der Wirklichkeit. Höher gestapelt eben.
Die wissen gar nicht mehr wohin mit all der Kohle...
Dabei könnten mit ein paar Milliarden aus deren Portokassen die Welt ein friedlicherer und schönerer Ort für alle werden!