Die Liebe begann mit einem Teller Pasta. Die Liebe zwischen der Italienerin Milena Canonero und dem Amerikaner Stanley Kubrick. Wobei es keine romantische Liebe war, sondern eine Arbeitsliebe. Eine, die Filmgeschichte schrieb.
Es war also im Jahr 1970, ein junger italienischer Filmkritiker und Drehbuchautor namens Riccardo Aragno hing damals gerne bei seinen sehr coolen Freunden, den Kubricks, in London ab. Weder Stanley noch seine deutsche Frau Christiane konnten kochen, Stanley tischte am liebsten schnell zusammengepappte Burger auf, und Riccardo litt still vor sich hin. Bis er eines Tages sagte: «Ich bringe jemanden mit. Kauft nicht ein. Wir kochen.»
«Er kam mit einer Einkaufstüte und einer jungen Frau, sehr schön, sehr schlank, sehr stylish. Milena», erzählt Christianes Bruder Jan Harlan (der Onkel der beiden war der unter Hitler beliebte NS-Filmer Veit Harlan) 2017 an der Berlinale. Milena Canonero erhält dort einen Ehrenbären für ihr Lebenswerk als Kostümkünstlerin. Milena und Riccardo machten also eine Insalata Caprese und kochten Pasta «mit einer Sauce, die schwer zu beschreiben ist, sie war Kunst», so Harlan. Ab da gehört die 24-Jährige zur Familie.
Geboren ist Milena Canonero am 1. Januar 1946 in Turin, über ihre Kindheit ist so wenig bekannt wie über ihre Ehe, sie ist eine geradezu frustrierend private Person, zu hundert Prozent frei von Gerüchten, Skandalen, Kontroversen, man weiss bloss, sie hatte eine Kindheit und sie hat eine Ehe – nämlich seit 45 Jahren mit dem Schauspieler Marshall Bell, die beiden sollen aktuell in Rom leben, andere Quellen sagen Mailand. Mitte August waren sie jedenfalls gemeinsam in Locarno, wo Milena Canonero einen Ehrenleoparden für ihr Lebenswerk erhielt. Sie, die Frau, die Leben und Werk so fein säuberlich trennt. Von der gegen aussen einzig das strahlende, übergrosse Werk zu sehen ist.
Doch zurück nach London. Die junge Milena hat in Genua Kostümdesign und Kunstgeschichte studiert und geht jetzt auf Drängen ihrer Mutter – «sie war eine Anglophile», sagt sie in Locarno – nach London, um sich weiterzubilden: «Bloss für ein paar Studien, die ich dann nie beendet habe. So wie ich kein Studium in irgendeinem Land dieser Welt je beendet habe, ich bin eine ewige Studentin.»
Ihren ersten Einsatz hat sie für den Kurzfilm eines Freundes von Riccardo, er spielt in Italien, offiziell ist sie für die Kostüme verantwortlich, doch das erledigt sich rasend schnell: «Ich lieh einer Schauspielerin meine Jeans.» Und fertig war das Kostüm. Vor allem wird sie zum Dialekt-Coach und zur Vermittlerin mit der lokalen Mafia, mit der sie erfolgreich über eine Drehgenehmigung verhandelt.
Und dann sucht Kubrick jemanden für die Kostüme seines neuen Projekts. Jemanden mit Visionen, jung, aufregend, mit einem Gespür für Kunst und durchaus auch Künstliches. Christiane rät ihm zu Milena. Stanley sagt: «Gute Idee, ich habe gehört, sie sei ein Workaholic.» Und so wird Milena Canoneros erster langer Spielfilm, für den sie Kostüme designt, nichts Geringeres als «A Clockwork Orange». Die Geschichte von Alex und seiner ultragewalttätigen Jungs-Gang, die vergewaltigend und prügelnd durch ein futuristisches London ziehen und schliesslich den ebenfalls ultragewalttätigen staatlichen Umerziehungsmassnahmen begegnen. Weder Alex noch der Staat lassen sich brechen. Gewalt gebiert auf beiden Seiten nichts als Gegengewalt.
Canoneros Look für Alex wird ikonisch, die britische Punkszene adaptiert ihn später für sich, weisse Reithose, ein riesiges Suspensorium, weisses Hemd, weisse Hosenträger, Schlagstock, schwarze Springerstiefel, schwarze Melone, als Schmuck blutige Augäpfel. Die Frisur dazu kreiert Leonard of Mayfair, der Friseur, der die Pilzköpfe der Beatles und den Pixie-Cut von Twiggy erfunden hat.
Man ist jung und wild und kreativ, es geht nicht ums Geld, sondern darum, gemeinsam wegweisende Kunst zu machen, «es war meine schönste Zeit beim Film», sagt Canonero in Locarno, ein Riesenspass und alle ausgesprochen liebenswürdig, ganz das Gegenteil des Films, der viele Jahre über zensiert wurde, weil er als gewaltverherrlichend galt. Im Gegenteil, findet sie, erstens werde die Gewalt weit weniger explizit gezeigt als in anderen Filmen, zweitens hätten sie einen zutiefst moralischen Film gemacht, alles andere sei ein Missverständnis.
Ihr nächster Film wird «Barry Lyndon», ebenfalls von Kubrick, eine historische Hochstapler-Saga aus dem 18. Jahrhundert. Sie hat viele Monate Zeit für ihre Recherchen, sie besichtigt zuerst Kostüme, die bereits existieren, findet sie zu steif, wie «aus dem Kleiderschrank», dann beschliesst sie, alles selbst zu nähen. In einem alten Flugzeughangar eröffnet sie ihre «Factory».
Die grosse Herausforderung ist, dass Kubrick einen Film mit möglichst viel natürlichem Licht drehen will, in den Aussenszenen sowieso, in den Innenszenen am liebsten mit Kerzenlicht. Das dann doch zu schwach ist. «Er musste dafür Kerzen mit mehreren Dochten benutzen», sagt sie. Und er will mit einem Objektiv (in der ursprünglichen Fassung dieses Artikels hiess es «mit einer Linse») arbeiten, welches die Nasa entworfen hat, um damit die dunkle Seite des Mondes zu fotografieren. Alles soll wie gemalt wirken. Das Problem sind Canoneros neue Kleiderstoffe. Sie reflektieren das Licht ganz anders als die Natur oder alte Gebäude, deshalb bearbeitet sie sie, färbt sie und kocht sie tagelang, bis sie ganz weich fallen und völlig organisch wirken.
Jeder Stoff trägt Stoff für eine Erweiterung der erzählten Geschichte in sich. Ist eine zweite Haut. Jedes Muster, jeder Fleck, jeder Riss ist Zeugnis von einem Ereignis, einem Drama, einer Verletzung, einer Arbeit, einem Glück.
Eigentlich wollte sie Regisseurin werden. Spätestens nach «Barry Lyndon» war sie dafür verloren. Obwohl sie lernte und lernte und lernte, sie wollte genau wissen, wie so ein Filmbild komponiert wird, wie ihre Textilien zusammen mit Beleuchtung und Kamerastellung funktionieren, sie ist eine absolute Feinmechanikerin ihrer Ästhetik – und immer auch eine Soziologin. Denn was ihr bei ihren Studien am meisten helfe, sei, sich «in die Sozialgeschichte» einer Zeit oder einer Szene einzuarbeiten, zu verstehen, was Menschen, die ihren Figuren gleichen, eigentlich in ihren Kleidern den ganzen Tag über getan hätten. Wie sie darin gelebt, gearbeitet, geschlafen hätten. Die Kostüme in ihrer Vorstellung mit einem möglichen echten Leben zu füllen. Und immer auch das Historische mit dem Gegenwärtigen zu verknüpfen. Ein Kleid nicht von uns zu entfernen wie durch eine Museumsscheibe hindurch, sondern es nahbar zu machen.
Unbedingt gelungen ist ihr dies in «Out of Africa», dem grossen tragischen Liebesdreieck zwischen Meryl Streep, Robert Redford und Klaus Maria Brandauer vor kolonial-romantischer Kulisse. Sie tauchte die Garderobe ihrer Stars ganz in Safaritöne, Elfenbein vor allem (was im Film angesichts der Elefantenjagden auch einmal ironisch kommentiert wird), Khaki, Beige. Sie befreite Streep im Lauf des Films zusehends von allem Einengenden, allzu Weiblichen, und obwohl die Geschichte in den 1930er-Jahren spielt, wirkt Streeps Outdoor-Kleidung zeitlos und modern. Die Folge war eine «Out of Africa»-Kollektion von Ralph Lauren.
Beim Dreh zu Francis Ford Coppolas «The Cotton Club» lernt sie eine bewundernde 12-Jährige kennen, Sofia Coppola. Canonero beschreibt die Arbeit mit dem Vater als «bella e divertente», schön und unterhaltsam, als Italienerin sei sie ihm «natürlich besonders sympathisch» gewesen. 22 Jahre später wird sie für Sofia den französischen Hof von «Marie Antoinette» in aller Pracht entfalten.
Da ist Canonero bereits eine Ikone, gehört zu den italienischstämmigen Royals von Hollywood, arbeitet für ihre Entwürfe mit grossen italienischen Modehäusern oder anderen Spitzendesignern zusammen. Ihren Pastell-Pop für «Marie Antoinette» entwirft sie entlang den Macarons der französischen Confiserie-Marke Ladurée und Manolo Blahnik designt exklusiv die Schuhe zu ihren Kostümen – doch alle reden nur von ihrer genialsten Idee, einem Paar lilafarbiger Converse-Sneakers, die sie Marie Antoinette ins Zimmer stellt und damit den Film – gemeinsam mit dem Soundtrack – mitten hinein in den popkulturellen Diskurs der Nullerjahre hievt.
In Locarno trägt sie selbst weisse Converse-Sneakers, dazu einen eleganten, coolen, weich fliessenden cremefarbigen Hosenanzug. Über die Schultern hat sie ein leichtes Tuch geworfen, eine einzelne schmale blaue Linie schneidet sich durch das Weiss. Dazu ein weisser Strohhut mit schwarzem Band, und viel Silberschmuck, den meisten davon trägt sie an ihren Ohren. Es ist der perfekte Mix aus «Out of Africa» und «Marie Antoinette», der Hut wiederum eine exakte Kopie des Hutes, den sie einst Dick Tracy auf den Kopf setzte. Schon ein Leben lang trägt sie diese klaren Anzüge, auch ihre Oscars, die sie für «Barry Lyndon», «Chariots of Fire», «Marie Antoinette» und «The Grand Budapest Hotel» gewann, nahm sie in Anzügen entgegen.
Wie wichtig ist eigentlich der Mensch, der Körper, das Gesicht, die in einem Kostüm stecken? Sehr wichtig, sagt sie: «Wir schaffen eine Hülle, wir helfen mit unserem Input einer Schauspielerin oder einem Regisseur.» Und ihr Geheimnis? «Es muss mir leicht fallen, es darf nie schwer werden.»
Milena Canonero wird am 1. Januar 2026 wieder Geburtstag haben, es wird ihr 80. sein, und die Arbeitssüchtige, die Kubrick mit ihrer Besessenheit, die seine eigene ergänzte, so Eindruck machte, wird sich auch dann nicht zur Ruhe setzen. In über 50 Arbeitsjahren hat sie über 50 Filme kostümiert, dazu noch zwei Jahre lang die Serie «Miami Vice». Sie kennt sich aus mit Gangstern, Queens und Psychopathen, sie hat auch die Figuren in «The Shining», «The Godfather Part III», und «Ocean's Twelve» eingekleidet und fast jeden schrägen Vogel, den Wes Anderson schon auf die Leinwand gezaubert hat.
Seit «The Life Aquatic with Steve Zissou» ist sie Wes Andersons Haupt-Kostümdesignerin, viele der Farbkombinationen, die seine Bilder so ungewöhnlich und eingängig machen, sind ihr zu verdanken, etwa die violetten Uniformen in «The Grand Budapest Hotel». Anderson wollte eine einfache Farbe, blau, grün oder braun, doch dann fand sie den violetten Stoff, der von so einer unglaublichen Qualität war und so wunderbar auf Licht reagierte, dass auch Anderson nur noch sagen konnte: «That's it.»
Gerade hat sie für ihn das Ensemble in «The Phoenician Scheme» angezogen, davor hat sie noch schnell für Francis Ford Coppola alle Kostüme für «Megalopolis» kreiert. Ein Wahnsinn. Und ein Geschenk an uns. Denn am Ende jedes Films steht das Publikum, das ihn schaut, und dem ein paar unvergessliche Bilder wie kostbare Postkarten im Gedächtnis bleiben. Milena Canonero ist für überdurchschnittlich viele dieser Postkarten mitverantwortlich. Danke dafür.