«Ich will dein Buch nicht lesen», sag ich zu Tom.
«Wieso?», fragt Tom.
«Es ist autobiografisch. Ich hab keine Lust auf deinen Exhibitionismus.»
«Es ist ein Roman», sagt Tom.
«Ich glaub dir nicht.»
«Es ist wirklich ein Roman.»
Dann liegt das Buch vor mir. «Nina & Tom». Die Liebesgeschichte von Tom und Nina Kummer, die am 22. September 2014 nach 30 Jahren mit Ninas Krebstod endet. Ich überfliege den Anfang und den Schluss. Dann will ich den Rest. Es ist zu gut. Vielleicht zu gut, um wahr zu sein. Aber vielleicht geht’s gerade darum. Um ein Märchen mit Nina. Ein brennendes Denkmal für Nina. Toms grosse Liebe, sein Superstar, seine Diva, seine Muse.
Alles beginnt 1985: Tom Kummer ist ein Berner, der in Berlin lebt, Nina eine Bielerin, die in Barcelona jobbt. Zufälligerweise begegnen sie sich in Barcelonas Clubszene und verfallen einander. 1985 ist die Clubszene glamourös, Grace Jones und David Bowie sind ihre bösen glitzernden Götter, Springerstiefel und eckige Uniformjacken verleihen den Nächten einen Hauch latenter Aggression.
Tom sieht gefährlich aus. Nina wie ein wunderschöner Junge. Er ist Anfang 20, sie drei Jahre jünger. Sie kellnert in einem Club, er versucht sich als Rebell, zündet Dinge an und filmt das Feuer. Beim Sex übernimmt Nina. Sie ist brutal und eine eiskalte Narzisstin, die immerzu unter Drogen steht.
Der Mann, der all das schreibt, erfand vor über 25 Jahren den Journalismus nach eigenen Gesetzen neu. Erfand Interviews. Mit Stars. Viele, viele Interviews. Leider waren sie grossartig. Leider wollten sie alle. Und Tom wunderte sich, dass er nicht viel früher aufflog und aus allen medialen Zusammenhängen geschmissen wurde. Nina hatte ihn gewarnt. 2000 war zum ersten Mal Schluss. 2016 zum zweiten Mal. Was er machte? Was wir alle mit Stars machen: Er benutzte sie als Projektionsfläche. Er drehte innere Filme mit ihnen, die sie interessanter machten, als sie wahrscheinlich sind.
In «Nina & Tom» beschreibt er die Vorgehensweise: Er nimmt ein paar Bücher, schmeisst sie in die Luft und packt sich eine der offenen Seiten, auf denen sie landen. Steht da zufälligerweise was Interessantes über Orchideen, erfindet er eben ein sensibles Gespräch mit Charles Bronson über Orchideen. Aber vielleicht ist auch die Beschreibung dieser Situation eine Erfindung. Man weiss es einfach nicht.
Einiges kommt einem verdächtig bekannt vor. Zum Beispiel das wahnsinnig atmosphärische Kapitel über eine Autofahrt durch einen Tornado in Kansas. Nina will Naturphänomene fotografieren. Und weil alles so dramatisch ist, zeugen sie auch gleich noch ein Kind. In einem Tornado in Kansas? Ehrlich?
Was ist der berühmteste Tornado der Filmgeschichte? Genau, der aus «The Wizard of Oz», der über Kansas hinwegfegt und das Haus der kleinen Dorothy auf den Märchenplaneten Oz verpflanzt. Kann man natürlich sehr gut klauen. Denn neben dem Erfinden klaut Tom auch gerne.
Sagen wir so: Tom Kummer ist ein leidenschaftlicher Schreiber, aber einfach kein Journalist. Seine frühen Versuche, richtige Reportagen zu schreiben, scheitern am Grössenwahn. Einmal möchte er darüber schreiben, wo in Deutschland die Drogen am besten sind. Nina und er fahren auf Einkaufstour. Ihre Spesenrechnung beträgt ungefähr 20'000 DM für Drogen, die kein Labor testen will. Früher, Ende der 80er- und Anfang der 90er-Jahre konnte man sowas noch machen im Journalismus. Heute sind das Märchen aus einer andern Zeit.
Aber keine Bange: «Nina & Tom» ist kein Journalisten-, sondern ein Liebesroman. Der vielleicht auch nur die Kopie eines andern Liebesromans ist. Denn Nina schleppt in Toms Roman ein einziges Buch mit sich herum, «Love Story» von Erich Segal. Dessen Handlung: Die beiden College-Studenten Oliver und Jenny heiraten überstürzt, werden von ihren (reichen) Familien rausgeschmissen und sind in New York auf sich selbst gestellt. Sie wollen ein Kind, doch dann erfährt Jenny, dass sie Krebs im fortgeschrittenen Stadium hat. Sie stirbt.
Auch Nina und Tom haben sich längst von ihren Familien entfremdet und wandern nach Los Angeles aus. Sie haben zwei Söhne. Im Mai 2012 klagt Nina über starke Bauchschmerzen. Der Arzt informiert sie, dass sie Darmkrebs im fortgeschrittenen Stadium hat. Tom pflegt sie bis zu ihrem Tod zuhause. Die Frage, die ihn immer beschäftigt: Wann darf ich zum letzten Mal mit meiner Frau schlafen?
Die Darstellung ihrer entsetzlichen letzten Stunden wechselt sich kapitelweise mit dem Rest der gemeinsamen Zeit ab. Die auch schon kaputt war, jedenfalls in der Nacherfindung. Aber in der Kaputtheit irritierend schön. In Scherben spiegeln sich Ideen von Glück wie in einer Discokugel.
Zwei Jahre nach Ninas Tod kehrt Tom in die Schweiz zurück. Er lebt jetzt wieder dort, wo sein Abenteuer angefangen hat, in Bern. Und er hat dieses Buch geschrieben, diesen Sog aus Road Movies und Räubergeschichten. Und was ist nun wahr? Was Kopie oder geklaut? Nina ist tot. Das ist Wahrheit genug. Der Rest ist ein Roman.
Tom Kummer: «Nina & Tom». Blumenbar Verlag, Berlin 2017. 253 S., ca. 28 Fr. Am 3. April ist Tom Kummer im «Züri Littéraire» im Zürcher Kaufleuten Club zu Gast, am 5. April liest er in der Buchhandlung Orell Füssli in Bern.