Und nun zurück zum Artikel.
Wenn ich jemandem in einem Nebensatz erzähle, dass meine Eltern geschieden sind, sprechen sie mir meistens ihr Mitgefühl aus. «Oh. Sorry!», sagen die einen. Es täte ihnen leid, die anderen. Aber was tut ihnen eigentlich leid? Wieso entschuldigen sie sich dafür?
Ich war drei. Ich erinnere mich haargenau an eine gemütlich eingerichtete Wohnung. An Spielsachen und an meinen Papa. Lange dachte ich, wir wären gemeinsam in den Ferien, Papa und ich – ohne Mama. Erst Jahre später erfuhr ich, dass sich meine Eltern damals das erste Mal getrennt hatten. Sie versöhnten sich wieder – meinetwegen. Von ihren Streitereien habe ich nie etwas mitbekommen.
Als ich zehn war, beschlossen meine Eltern, sich endgültig scheiden zu lassen. Wie ich mich damit gefühlt habe, was in mir vorging – daran kann ich mich nicht erinnern. Vielleicht verdränge ich diesen Tag. Vielleicht habe ich ihn einfach vergessen. Meine Mutter weiss allerdings noch, wie ich weinend gesagt hätte: «Ich habe euch beide lieb».
Es mag herzlos klingen, aber ich freute mich, dass im Fernsehen endlich kein Fussball mehr lief. Der Kampf um die Fernbedienung, bei dem ich sowieso nie gewann, zur Vergangenheit gehörte. Ich freute mich, dass ich täglich im Bett von Mama übernachten durfte. Meine Mama war nicht ansatzweise so streng wie Papa. Als Einzelkind bekam ich noch mehr Aufmerksamkeit als sonst schon und Mama erlaubte mir Dinge, die Papa bestimmt nicht erlaubt hätte.
Ich höre immer wieder, dass eine Scheidung für Paare mit Kindern nicht in Frage käme. Der Kinder zuliebe. Dieser Meinung bin ich nicht. Niemand sollte der Kinder wegen in der Ehehölle schmoren.
Für die meisten Eltern ist nur schon der Gedanke daran, das eigene Kind zu einem Scheidungsanwalt zu schicken, eine Qual. Ich erlebte das pure Gegenteil.
Zu Fremden war ich oft ein eher scheues, verschlossenes Wesen. Doch mit dem Scheidungsrichter freundete ich mich an. Fröhlich erzählte ich ihm, dass ich mich nicht mehr um die Fernbedienung streiten und nicht jedes Wochenende in die Berge fahren muss.
Bei Papa wohnen? Nein, auf keinen Fall. Er kocht grauenvoll.
Ferien mit ihm? Bitte nicht. Die werden bestimmt langweilig.
Selbst die Gerichtsschreiberin war über meine Verfassung und meine ungeschönten Antworten überrascht.
Nach der Scheidung änderte sich für mich nicht viel. Ich war nach wie vor ein glückliches Kind. Immerhin hatte ich noch meine besten Freunde: meine zwei Kaninchen. Haustiere sind die besten Seelentröster. Klar, vermisste ich die Anwesenheit und den Gutenachtkuss von Papa, aber mit der Zeit fragte ich mich nicht mehr «Was wäre wenn ...?».
Jedes zweite Wochenende verbrachte ich bei Papa. Ich muss zugeben, meine Mutter musste mich jeweils dazu zwingen. Obwohl er im gleichen Dorf wohnte, war ich lieber Zuhause. Nicht nur wegen des Spielzeugs. Ich fühlte mich in seinem Haus einfach nicht wohl und langweilte mich. Das sollte sich bald ändern.
Mit meiner Mutter lästerte ich zwar immer über «die Andere», aber insgeheim mochte ich sie. Ziemlich fest sogar.
Das war eine der schwierigsten Situationen. Ich getraute mich nicht zuzugeben, dass ich sie mag. Als Kind hatte ich Angst, meiner Mutter das Gefühl zu geben, Papas neue Freundin wäre besser als sie.
Aber mit Papas Freundin konnte ich nicht nur über alles reden, wir unternahmen auch sehr viel gemeinsam. Durch sie kam ich meinem Papa näher. Sie überzeugte mich sogar davon, mit ihnen gemeinsam in die Ferien zu fahren. Früher unmöglich. Danach waren das die besten Ferien überhaupt.
Als kleines Kind wünschte ich mir von Mama und Papa immer eine kleine Schwester. In den Ferien im Tessin stand ich vor einem Münzbrunnen. Meine Oma reichte mir einen Einfränkler und sagte mir: «Du darfst dir was wünschen. Aber pssst, verrate deinen Wunsch niemandem, sonst wird er nicht in Erfüllung gehen.» Ich warf die Münze und rief in voller Lautstärke:
Mein Wunsch ging mit zwölf Jahren fast in Erfüllung. Meine Mutter lernte ihren neuen Freund kennen und ich bekam statt einer Schwester gleich zwei liebevolle Stiefbrüder. Der Partner meiner Mutter und seine Kinder sind eine grosse Bereicherung in meinem Leben.
Zu meinen Eltern pflege ich eine gute Beziehung. Ich könnte mir aber nicht vorstellen, wie es wäre, wenn sie nicht geschieden wären. Es ist wie mit allem im Leben: eine reine Gewöhnungssache. Weihnachten und Geburtstag feiere ich immer zweimal im Jahr. Ein riesen Stress. Dafür gibt es mehr Geschenke und ein paar Pfunde mehr auf den Hüften.
Aber nur, weil meine Eltern nicht mehr zusammen sind, habe ich nicht den Glaube an die grosse Liebe verloren. Auch ich möchte eines Tages heiraten und Kinder kriegen.
Die Scheidung meiner Eltern verursachte in mir keine innerlichen Wunden. Auch nicht in meinem Erwachsenenleben. Ich habe weder einen Männerhass noch Drogenprobleme oder Bindungsstörungen.
Ich bin zwar ein Scheidungskind, aber ich brauche wirklich kein Mitleid.