Der Schweizer ist schön. Er gleicht mit seinem fein geschnittenen, leicht androgynen Gesicht dem italienischen Stummfilmstar Rudolph Valentino, der in Hollywood Frauen wie Männer um den Verstand brachte. Der Schweizer ist 31, heisst Alfred Lohner und ist der grosse Star am Wiener Burgtheater, er spielt Romeo, Hamlet und alle anderen jungen Herzenshelden.
Am 14. Februar 1933 wird er verhaftet. Wien ist im Schock. Lohner soll sich an zahlreichen minderjährigen Mädchen vergriffen haben. An Schülerinnen, Töchtern von Freunden, Mädchen aus der besseren Wiener Gesellschaft. Die Direktorin einer Mädchenschule und Eltern haben sich an die Polizei gewandt, diese ermittelt ungern, doch sie tut es, und der Angeklagte ist geständig.
Seine Schutzbehauptung lautet, dass er das Alter seiner Opfer nicht gewusst habe, er will auch 12-Jährige für 14-Jährige und damit jenseits des Schutzalters für einvernehmliche sexuelle Handlungen gehalten haben. Er wird zu fünf Monaten Gefängnis verurteilt. Das Burgtheater entlässt ihn, er sei dem «sensiblen Publikum» nicht mehr zumutbar. Nach seiner Entlassung nimmt er erst einige Engagements in den deutschsprachigen Theatern der Tschechoslowakei an, 1938 kehrt er mit seiner kaum zwanzig Jahre alten Ehefrau Annelies in die Schweiz zurück.
Der österreichische Historiker Peter Melichar hat den Fall Lohner für die «Frankfurter Allgemeine Zeitung» zusammengetragen, und das Interessante daran ist, wie Lohner versuchte, sein Bild in der Öffentlichkeit zu steuern. Er engagierte dafür zwei vergleichsweise alte Männer, den Burgtheater-Kollegen Otto Tressler (60), vor allem aber den Publizisten und Jäger Felix Salten (61).
Salten hatte einst einen zweifelhaften Ruf als Journalist, weil sich grosse Teile seiner Artikel – etwa über ein Erdbeben in San Francisco – als reine Erfindungen herausstellten. Doch dann gelang ihm mit der Rehkitz-Tragödie «Bambi» ein Weltbestseller, 1942 sollte daraus einer der ersten abendfüllenden Disney-Filme werden, Saltens Beliebtheit war gesichert.
Ausserdem galt er als kenntnisreicher Pornograf. 1906 war der Roman «Josefine Mutzenbacher oder Die Geschichte einer Wienerischen Dirne von ihr selbst erzählt» erschienen, der Autor blieb anonym, ganz Wien war sich sicher, dass dieser Felix Salten hiess, doch Salten sagte nichts. Nicht Nein und nicht Ja. «Josefine Mutzenbacher» ist die Geschichte einer Prostituierten, die bereits mit fünf als Sexspielzeug missbraucht wurde und noch als Kind lernte, wie man Erwachsene verführt und befriedigt. Getarnt ist das Ganze als Selbstermächtigungsgeschichte einer sexuell immer schon selbstbewussten Frau.
In Deutschland stand das Buch zwischen 1982 und 2017 wegen Kinderpornografie auf dem Index für jugendgefährdende Schriften und war verboten. Nun hat sich Salten zwar nicht zu dem Buch bekannt, doch in seinem Nachlass fand sich ein stilistisch wie inhaltlich ähnliches Manuskript und seine Nachkommen waren äusserst fix darin, Tantiemen für «Josefine Mutzenbacher» zu verlangen.
Im Fall Lohner spielt sich Salten nun als das auf, was auch der Autor von «Josefine Mutzenbacher» ist, als Fachmann für die erotische und sexuelle Potenz minderjähriger Mädchen. Im besten Einvernehmen mit Tressler, der über die «Bedrängnisse» von Schauspielern spricht, die in die gierigen Hände junger Mädchen geraten, beschwört er Lohner in einem Artikel mit dem Titel «Prozess der kleinen Mädchen» als das arme Opfer seiner sirenenartigen Groupies, die «Verführung allzu erbötiger, allzu aufdringlicher junger Mädchen».
Die Strategie ging auf. Weitere Journalisten stimmten den beiden zu. Alle waren schuld, die Eltern, die Erziehung, die Mädchen, das kreative Milieu – bloss Lohner nicht. Von «Massenpsychose» ist die Rede. Und was soll einer denn tun, wenn ihm sein Job eine derart erotische Aura verleiht?
Die Schweiz kriegt davon nichts mit oder will es nicht wissen. Lohner legt sich hier sein eigenes Helden-Narrativ als Antifaschist, der es in Österreich nicht mehr ausgehalten hat, zurecht. In einem Nachruf in den «Badener Neujahrsblättern», der 1992, zwei Jahre nach Lohners Tod, erscheint, heisst es: «In Wien ging das Publikum nur der Schauspieler wegen ins Theater, und die Schauspieler waren mindestens so wichtig wie die Staatsminister. Trotzdem verliess Lohner Wien, als die braunen Horden auch hier überhandzunehmen begannen. Einmal hatte er mit einem Kollegen zusammen einen Nazi-Fackelzug zu stoppen versucht; aus der ungemütlich bedrohenden Situation, buchstäblich an die Wand gedrückt, rettete die beiden nur das Eiserne Kreuz, das der Kollege zufällig bei sich hatte.»
Es klingt, als habe sich da einer dringend in die Gemeinschaft der exilierten, von den Nazis tatsächlich bedrohten Künstlerinnen und Künstler, wie sie etwa am Zürcher Schauspielhaus sehr präsent waren, einzuschreiben versucht. Auch sein Freund Salten, der eigentlich Siegmund Salzmann hiess, gehörte dazu. Er starb im Oktober 1945 verarmt in Zürich. 1950 widmete ihm eine Genossenschaft in Oberstrass den Bambi-Brunnen.
In der Schweiz hat Lohner viel Theater gespielt und Filme gedreht, doch ein Star war er hier nicht mehr, sein Schauspielideal war zu «klassisch», zu «dramatisch», er hasste neuere Stücke und Inszenierungsweisen, hasste Autoren wie Beckett und Ionesco. Gefeiert wurde er bloss in Wien, wo er nach dem Krieg als Gast am Burgtheater wie früher Standing Ovations erhielt.
Gefeiert wird dagegen seine Frau Annelies, eine gebürtige Bayerin. In der Schweiz entdeckt sie ihr Gespür für die Berge. Sie lässt sich von einem prominenten Zermatter Bergführer das Bergsteigen beibringen und organisiert 1947 eine Himalaja-Expedition inklusive einer Erstbesteigung. Im «Echo der Zeit» erzählt sie vor der Abreise, dass sie in den letzten Jahren rund drei Dutzend Viertausender bestiegen habe, dazu das Matterhorn von allen vier Seiten. Im Himalaja wird sie für Kommunikation, Pressearbeit und Reparaturen mit Nadel und Faden zuständig sein.
Als sie 1949 zum zweiten Mal in den Himalaja aufbricht, liegt ihr die Schweizer Presse zu Füssen, die NZZ kann nicht genug kriegen von ihren Schilderungen wilder Bienenschwärme und Wanzen, die sie während der ersten Expedition attackierten: «Nun will sie neue alpinistische Grosstaten vollbringen. Hoffen wir, dass sie die Heimatflagge gesund auf einigen bezwungenen Spitzen flattern lassen kann!» Ihre Kollegen nennen sie liebevoll «Gemsli».
Auf den monatelangen Touren verliebt sie sich in einen anderen Alfred, den Thurgauer Industriellen Alfred Sutter. Wann sie sich von Alfred Lohner scheiden lässt und Sutter heiratet, ist unklar, doch bereits 1951 lassen sich die beiden eine schöne weisse Villa im thurgauischen Münchwilen bauen, die bis heute ein idyllisches Ausflugsziel ist. Anneliese stirbt 2012 mit 94 Jahren.
Lohner ist da schon seit 22 Jahren tot, zuletzt war er ein glühender Fan von Ronald Reagan, rezitierte Gedichte für alte Fans und wetterte gegen jede mögliche Religion, besonders gegen den Islam. Wieso er einst das Burgtheater verlassen musste, behielt er bis zuletzt für sich.
Wir (M)Ostschweizer*innen nun im Süden
Einfach verrückt die Zeit und vorallem wer diese Pflegte und Liebte, da earen berühmte Mamen darunter.
Der Bambi Autor hat mutmasslich Pädophilelektüre geschrieben und auch aktive Recherchen im Milieu betrieben....stellt Euch vor Bambi und Mutzenbacher, wie kontrovers ist das denn?
ᴉlǝqǝǝuɥɔs@Frau Schneebeli
Danke, Simone Meier, für diesen hervorragend geschriebenen Artikel, der Einzelschicksale im jeweils herrschenden Zeitgeist spiegelt.