Das Lebensgefühl in Locarno beschränkt sich tagsüber auf den Status «schmelzender Zombie». Und auch wenn es Leute gibt, die auf einer frisch geteerten Strasse gehen und sagen können: «Findest du es jetzt etwa ZU heiss? Also ich find's bloss heiss!» –, sie sind die Ausnahme. Ich bin ein besonders rapide schmelzender Zombie. Und plötzlich sitze ich einer 24-Jährigen gegenüber, die aussieht wie kühles, vergnügtes Porzellan, die eine Bluse aus weisser Spitze trägt, einen Früchteteller quer über den Tisch schiebt und sagt: «Ich bin Daisy! Mögen Sie auch was? Ich esse sonst alles allein.»
Mir entfährt: «Sie armer, armer Mensch! Wie machen Sie das bloss bei diesen Temperaturen! Ich darf ja wie ein Teller gekochter Krebse aussehen, aber Sie nicht.» «Sagen wir mal, es gibt Leute, die mir dabei helfen», sagt Daisy, die natürlich nicht irgendeine Daisy ist, sondern Daisy Edgar-Jones, die im April 2020 mit der BBC- und Hulu-Serie «Normal People» den Serienhit aller pandemisch angeschlagenen Gefühlsmenschen über 16 landete.
Der 2018 erschienene Roman «Normal People» ist der mittlere von bisher drei Bestsellern der heute 31-jährigen Irin Sally Rooney. Wie immer bei Sally Rooney haben da sehr junge, sehr attraktive Menschen unüberlegten Supersex und dann wird's elend kompliziert und sie versuchen, den Komplikationen mit neuem Sex aus dem Weg zu gehen, was zwar eine Lösung ist, aber keine nachhaltige, und so werden ihre Gedanken und Gespräche immer komplizierter. Nicht nur Millennials erkennen sich darin wieder.
Als Daisy Edgar-Jones die Hauptrolle der Marianne in «Normal People» bekam, hatte sie gerade viele erfolglose Castings hinter sich, kellnerte, ging aus Frust zum Coiffeur, liess sich einen Pony schneiden, erhielt die Rolle und machte den Pony zur Kultfrisur. Sie hat ihn immer noch. Und die ganze zähe Zerbrechlichkeit, die wir schon bei Marianne kennenlernten und die sie jetzt als Kya in einer neuen Weltbestsellerverfilmung wieder braucht.
Kya ist die Heldin aus «Der Gesang der Flusskrebse» (ebenfalls 2018) von Delia Owens, dem Abenteuerroman, der gefühlte 5000 Jahre auf Platz eins aller Bestsellerlisten stand und sich bis jetzt über 15 Millionen Mal verkauft hat. Daisy Edgar-Jones spricht von «Sally und Delia», als wären es ihre Freundinnen. Was sie tatsächlich auch geworden sind. Schliesslich leben beide noch und beide waren bei den Dreharbeiten dabei. Wo Daisy sie ganz genau dabei beobachtete, wie sie die Verfilmung ihrer Bücher beobachteten. «Seltsam war das.»
Die Geschichte von Marianne spielt in der ganz direkten, studentischen, irischen Gegenwart. Die Geschichte von Kya spielt in den 50er- und 60er-Jahren von Louisiana. In den Südstaaten. In den Sümpfen, im Marschland. Kya wächst dort als Naturkind auf, als letztes Familienmitglied, das es noch mit einem gewalttätigen und alkoholsüchtigen Vater aushält. Mit Hilfe weniger lieber Menschen lernt sie Lesen, Schreiben und Rechnen, lebt vom Muschelsuchen und wird zur selbstverständlich hochbegabten Illustratorin der märchenhaften Flora und Fauna. Nur das Problem Mann bleibt weiterhin ein grosses, eines Tages findet man einen Toten, und Kya, die ungebändigte Aussenseiterin, wird verhaftet.
Daisy Edgar-Jones hatte die beiden Bücher von Rooney und Owens inhaliert. War Fan, bevor überhaupt die Möglichkeit einer Verfilmung geboren war. Verehrte Marianne und Kya. Ist es da nicht seltsam, wenn man bei der Erinnerung an absolute Lieblingsbücher plötzlich das eigene Gesicht vor Augen hat? Nimmt man sich da nicht eine Freude? «Nein, ich habe mich ja schon immer mit meinen Heldinnen und auch den Helden identifiziert, ich verschmolz mit ihnen. Dass ich sie jetzt auch bin, fühlt sich gut an.»
Ist es für die Verschmelzung von Bedeutung, dass beide junge Frauen von Frauen erfunden wurden? «Ja. Es gibt diese schwierigen weiblichen Erfahrungen, man wird zum Beispiel unterschätzt von den andern, aber man unterschätzt sich auch selbst. Sowas verbindet die beiden und verbindet sie mit mir. Und beide sind Aussenseiterinnen. Eine Erfahrung, die viele von uns schon gemacht haben, gerade in ihren Zwanzigern, da geht es doch einzig darum, herauszufinden, wie, wo und mit wem man am glücklichsten sein kann, was sich richtig anfühlt und was nicht.»
«Where the Crawdads Sing», wie Buch und Film auf Englisch heissen, wurde an Originalschauplätzen in Louisiana gedreht. Die Landschaften sind wahre Traumgebilde. «Wir spürten die Hitze, wir hörten das Geräusch der Zikaden, wir sahen die Alligatoren.» Waren die Alligatoren etwa alle naturbelassen? «Ja. Aber wenn man sie nicht stört, fressen sie einen nicht. Wir mussten bloss vorsichtig sein, wir mussten ja sehr viel schwimmen beim Dreh. Aber es geschah nichts. Meine unangenehmste Erfahrung mit einem Tier hatte ich in London: Da geriet mir mal eine Küchenschabe mit meiner Wäsche in den Tumbler. Nicht gut.»
Daisy Edgar-Jones kam während der Pandemie aus dem Nichts zu Weltruhm samt Golden-Globe-Nominierung. Nun, nicht aus dem absoluten Nichts. Ihre irische Mutter war Cutterin beim Film und ihr schottischer Vater Leiter der Abteilung Unterhaltung beim Streaming-Anbieter Sky. Aufgewachsen ist sie im gediegenen Londoner Stadtteil Islington. Dass sie Schauspielerin werden wollte, wusste sie früh. Aber so richtig funktioniert hat es erst mit «Normal People», das wegen der Pandemie zum Hit wurde, weil alle zuhause sassen und Serien schauten.
Ausserhalb des Drehs sass auch Daisy zuhause. Führte ein paar Zoom-Interviews und las, was andere über sie und «Normal People» dachten. Und wunderte sich, dass alle sie anschauten, wenn sie einmal täglich ihren Spaziergang machte. «Ich wusste nicht, ob sie mich damit meinten oder ob sie bloss schon wochenlang keinen Menschen mehr gesehen hatten. Interviews im Direktkontakt mache ich auch erst seit Kurzem wieder, es ist nett, zu sehen, dass meine Worte wirklich bei einem Gegenüber ankommen, per Zoom fragte ich mich jedes Mal, ob das jetzt wirklich stattgefunden hat.»
«Crawdads» läuft im Kino. Daisy betont so sehr, wie sie das freut, dass ich frage, ob sie das jetzt bloss aus PR-Gründen sagt oder ernst meint. Schliesslich gehört sie zu einer virtuell sozialisierten Generation. Und ihr Vater arbeitet bei Sky. «Ich bin noch im Kino gross geworden», widerspricht sie, «ich erinnere mich genau an meine Aufregung, als der letzte ‹Harry Potter› rauskam. Oder ‹Hunger Games›. Ich gehe ins Kino, ins Ballett, ins Theater, ich bin süchtig danach, mit fremden Menschen in einem Raum zu sitzen und mich nicht allein zu fühlen, weil ich genau weiss, jetzt teilen wir gerade eine Emotion. Ich bin überzeugt, dass wir Menschen von Natur aus mitfühlend sind. Hinzu kommt das körperliche Erleben, Ton und Bild sind im Kino so viel stärker als auf der kleinen Leinwand zuhause, wir müssen uns wirklich bemühen, dass all dies nicht ausstirbt.»
Als «junge Person», wie sie das nennt, sah sie im Kino auch alles mit Reese Witherspoon. Jetzt ist Witherspoon ihre Produzentin geworden. «Crawdads» ist eines von Witherspoons vielen Projekten – neben Überhits wie «Gone Girl» von David Fincher, «Big Little Lies» mit Nicole Kidman, Meryl Streep, Zoë Kravitz, Witherspoon selbst und vielen mehr, «The Morning Show» mit Jennifer Aniston und Witherspoon. «Ich war begeistert von ihrer Präzision und ihrem Engagement, und ihr Prinzip, Stoffe von Frauen zu realisieren, ist unendlich wichtig.» Den Südstaatenstoff von Delia Owens wollte Witherspoon, weil sie selbst aus den Südstaaten stammt.
Nun muss man zu «Crawdads» leider sagen, dass dies schon ein rechter Kitsch aus gesammelten Muscheln und wirbelnden Vogelfedern geworden ist. Und dass mit Ausnahme der Titelheldin nicht unbedingt die facettenreichsten Figurenzeichnungen vorgenommen wurden. Mit diesem Film werden sich zwar enorm viele Taschentücher verkaufen lassen, was auch eine Qualität ist, gerade im kathartischen Sinn, den das Kino ja unbedingt bedienen soll, aber Preise wird es dafür eher keine regnen.
Daisy Edgar-Jones hat dies auch nicht nötig. Die Kritikerinnen und Kritiker drehen eh durch, wenn es darum geht, ihr Talent zu beschreiben: Roh, verletzlich, widersprüchlich, zäh, zart, hyperlebendig, alles gibt es da. Sebastian Stan, ihr Partner in der Thriller-Komödie «Fresh», vergleicht sie mit der jungen Meryl Streep.
«O Gott! Neiiiiin! Das hat er gesagt? Ich versuche immer, jeden Job als Schauspielschule zu betrachten, ich mache Fehler, ich lerne daraus, ich machte Arbeiten, auf die ich stolz bin und solche, auf die ich weniger stolz bin. Ich sage mir immer: Nimm's ernst, aber nimm's auch leicht. Grundsätzlich fühle ich mich jedoch in allem wie ein Schwan, der ganz cool übers Wasser zu gleiten scheint, aber unter der Oberfläche panisch strampelt. Es ist dieses typische Hochstapler-Syndrom. Aber eines Tages werde ich hoffentlich ein komplett ruhiger, souveräner Schwan sein.» Sagt sie. Und entlässt uns normale Menschen mit einem sehr vergnügten Lachen in den Schmelzofen am Lago Maggiore.
«Where the Crawdads Sing» startet am 18. August im Kino.