Kelly Macdonald klingt im Zoom-Talk wie in ihren Filmen und Serien: leicht verwundert über den grundsätzlichen Zustand der Welt, neugierig und zugleich misstrauisch, auf eine eigenwillige Art hellsichtig. Und schottisch natürlich. Man möchte ihr sofort jedes Geheimnis und sein Leben anvertrauen, was kein Wunder ist. «Der schottische Dialekt ist der vertrauenswürdigste unter den britischen Dialekten», sagt sie, «er wird gern für Werbung und Ansagen verwendet. Wir gelten als liebenswert.» Schottisch, das Berndeutsch Grossbritanniens.
Die 46-Jährige ist die ideale Besetzung für Vertrauenspersonen, Ermittlerinnen, Geheimnisträgerinnen. Dabei verbirgt sich hinter ihrer oberflächlichen Zugänglichkeit und Naivität eine sture Undurchschaubarkeit. Etwa als Detective Chief Inspector Joanne Davidson in «Line of Duty», der beliebtesten britischen Cop-Show. 16 Millionen sahen regelmässig die sechste Staffel mit Macdonald, noch nie in der britischen TV-Geschichte hatte eine Serie diese Einschaltquoten erlebt.
«Ich wusste, dass das Interesse daran riesig sein würde», sagt sie, «aber mir war nicht klar, dass unsere Zuschauerzahlen wegen der Pandemie die eh schon sehr hohen Zahlen noch übertreffen würden. Es war schizophren und sehr anstrengend: Ich war gleichzeitig in der meist geschauten TV-Serie Grossbritanniens und auf mich allein gestellt wegen des Lockdowns.»
Zuvor hatte sie sich bereits in «Giri/Haji» mit der japanischen Mafia angelegt. Und in einer Folge von «Black Mirror» nach dem Hacker gefahndet, der mittels Shitstorms Killer-Drohnen steuerte. Und sie hatte eine Anwältin in «Trainspotting II» gespielt. «Ich war auch schon mehrere Therapeutinnen!», wirft sie ein. Was ist eigentlich die Attraktivität einer Ermittlerin? «Es ist toll, die smarteste Person im Raum zu sein, die alles unter Kontrolle hat und einen Fall gelöst kriegt.»
Und jetzt ist sie die Frau, die im Geheimdienst-Drama «Operation Mincemeat» für das Fleisch an den Knochen einer Leiche sorgt. Alles bei strengster Geheimhaltung natürlich. Die «Operation Hackfleisch» gab es tatsächlich, sie war 1943 die geniale List von Ewen Montagu (im Film Colin Firth), Offizier des Militärnachrichtendienstes der Navy, und des MI5-Mitarbeiters Charles Cholmondeley (Matthew Macfadyen – der Tom Wambsgans aus «Succession»).
Die Grundlage dazu hatte jedoch ein ganz anderer geliefert, ein junger, fantasiebegabter Marine-Leutnant und Spion namens Ian Fleming. Nur neun Jahre später erfand er den berühmtesten Geheimdienstagenten aller bisherigen Zeiten, James Bond. Fleming hatte die Idee, einen Toten mit falschen Papieren auszustatten und so den Feind in die Irre zu führen.
Montagu und Cholmondeley haben für diese Spinnerei 1943 eine ganz konkrete Verwendung: Die Deutschen müssen dringend von Sizilien abgelenkt werden, wo die Alliierten landen wollen. Deshalb soll eine Leiche mit Plänen über eine Landung der Alliierten in Griechenland versehen werden. Die Leiche eines Selbstmörders bringt die körperlichen Voraussetzungen mit, doch jetzt muss daraus «Major Martin» werden. Und aus der MI5-Sekretärin Jean Leslie (Macdonald) wird Martins fiktive Verlobte Pam, deren Foto er mit sich trägt.
Montagu und Leslie schreiben gemeinsam das Drehbuch von Martins persönlicher und romantischer Biografie. «Das entspricht meinem Alltag beim Film, das Behaupten einer Existenz, das Spielen, das Umschreiben einer Rolle», sagt Kelly Macdonald. «Operation Mincemeat» wird so nicht nur zu einem Film über ein militärisches Täuschungsmanöver, sondern auch zu einem Film über das Geschichtenerzählen an sich und damit das Kino.
Wo Colin Firth mitspielt, muss er auch an der Liebe leiden dürfen. Das ist Gesetz, seit er 1995 im legendären Jane-Austen-Mehrteiler «Pride & Prejudice» Mr. Darcy spielte und den Wet-Shirt-Contest für Männer erfand, indem er nach dem Baden in einem nassen weissen Hemd durch einen Park spazierte (sein Nachfolger als Mr. Darcy war übrigens 2005 Matthew Macfadyen im Film mit Keira Knightley). Jetzt ist er ein wenig in Jean Leslie verliebt. Wichtig ist die kleine Sentimentalität in diesem nach britischer Art (Regie führt John Madden) perfekt gearbeiteten Historienfilm allerdings nicht weiter.
Wichtig ist etwa die Frage, ob die Nazis wirklich so dumm sind, auf die List mit der Leiche hereinzufallen. Sie sind es. Am 30. April wird die von einem U-Boot ausgesetzte Leiche in Spanien angeschwemmt, am 10. Juli nehmen die Alliierten, ohne auf grossen Widerstand zu stossen, Sizilien ein. Churchill telegrafiert: «Hackfleisch gänzlich geschluckt.»
Ist es nicht seltsam, zu Kriegszeiten für einen Kriegsfilm Werbung zu machen? «Es gibt doch immer irgendwo einen Krieg», sagt Kelly Macdonald, «der Ukraine-Krieg ist bloss ganz anders in unserer Realität gelandet als andere, die nicht weniger verstörend sind. Wenn man irgendein Buch über den Ersten oder Zweiten Weltkrieg liest oder die Biografie einer Persönlichkeit aus jener Zeit, ist es sowieso unfassbar, dass Kriege überhaupt je wieder geschehen können.»
Sie liebt Biografien berühmter Leute. Aber sie mag es nicht, wenn man sie selbst berühmt nennt: «Ich bin nicht gut mit dem Fame-Ding.» Dabei ist sie nicht erst seit «Line of Duty» allgegenwärtig, sondern seit ihrem ersten Film. Seit «Trainspotting» von Danny Boyle, einem der vielen Zufälle in ihrem Leben.
Damals ist sie 19 und Kellnerin, aufgewachsen ist sie als Tochter einer alleinerziehenden Mutter in einem Sozialbau am Rand von Glasgow, die Schule hat sie mit 16 verlassen, da sieht sie ein Flugblatt, das zum Casting aufruft. «Ich träumte von der Schauspielschule und habe mich bloss fürs Casting gemeldet, um überhaupt mal eine Casting-Erfahrung gemacht zu haben.» Sie geht hin und wird zu Diane, dem 14-jährigen Objekt von Ewan McGregors Begehren.
Natürlich bemüht sich danach ein schottischer Rockstar um sie, Dougie Payne, der Bassist von Travis. Die beiden sind bis 2017 verheiratet. Viele Filme später castet Martin Scorsese sie für seine Prohibitionsserie «Boardwalk Empire» als irische Auswanderin. Es müsse eine Verwechslung vorgelegen haben, sagt sie einmal, er habe wohl ihren schottischen mit einem irischen Dialekt verwechselt. In «Boardwalk Empire» ist sie Margaret Schroeder, eine junge Witwe, die bald zur Mätresse und Gattin von Nucky Thompson (Steve Buscemi), dem korrupten König von Atlantic City, wird.
«Boardwalk Empire» war damals das direkte HBO-Nachfolgeprojekt von «The Sopranos», die Pilotfolge, bei der Scorsese selbst Regie führte, kostete 20 Millionen Dollar und brach damit alle bisherigen seriellen Budgetrekorde. «Es ist komisch, aber als ich drin war, merkte ich gar nicht, wie riesig das ganze Unternehmen war. Es war klar, dass alle besonders hart arbeiteten, weil der Name Scorsese draufstand. Aber wie grandios das eigentlich war, habe ich erst rückblickend verstanden.»
Nicht berühmt also? «Ähm, ich erlebe mich ja nur aus meiner Perspektive. Aber klar, hier, in diesem Haus, bin ich berühmt.» Im Zoom ist davon ein grosses, kindertaugliches Sofa in einem viktorianisch anmutenden Erker zu sehen, draussen scheint die Sonne. Ist das ihr Zuhause in Glasgow? «Ja! Das Wetter ist übrigens gerade sehr mild.»
Apropos Hackfleisch – kann sie als erklärte Liebhaberin der schottischen Nationalgerichte Haggis und Black Pudding noch etwas zu schottischem Essen sagen? «Eigentlich mag ich es nur einmal im Jahr. Man kann das nur essen, wenn man schon als Kind daran gewöhnt wurde. Mein Vater ass früher auch Kutteln und sowas, das überstieg meine Kräfte.» Einmal sagte sie in einem TV-Interview über den blutwurstähnlichen Black Pudding: «Blood is yummy.» – «Wahrscheinlich war ich da gerade halb verhungert, Blut schmeckt wirklich nicht so gut.»
«Operation Mincemeat» läuft jetzt im Kino.