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Jugend von heute, du gibst mir den Glauben an die Zukunft zurück. Danke!

This combination of photos shows actor Timothée Chalamet, from left, singer Billie Eilish, poet Amanda Gorman, and tennis star Naomi Osaka who will co-chair the Met Gala on September 13, 2021. (AP Pho ...
Jugendkultur heute: Timothée Chalamet, Billie Eilish und die Lyrikerin Amanda Gorman (von links).Bild: keystone
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Jugend von heute, du gibst mir den Glauben an die Zukunft zurück. Danke!

01.02.2022, 19:5719.12.2022, 15:30
Simone Meier
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Als ich jung war und mit Kulturjournalismus begann, da lagen Medien-Menschen über 40 für mich jenseits von attraktiv. Über 45 begannen sie alt zu werden. Ab 50 nahm ich sie nicht mehr ernst und schon gar nicht mehr wahr. Ihre Artikel fand ich anspruchslos und uninspirierend, meine Generation war die Zukunft und nur wir wussten, was in dieser Zukunft zählen würde.

Die alten Leute, egal ob Männer oder Frauen, schrieben am liebsten über alte weisse Männer. Oder den Zweiten Weltkrieg. Oder homosexuelle Schriftsteller, die einen enorm verklemmten Umgang mit ihrer Homosexualität hatten, was die alten Leute offenbar für angemessen hielten. Es gab Tage, da kamen in der ganzen, grossen Zeitung, bei der ich damals arbeitete, Frauen und Menschen mit einer anderen Hautfarbe als der weissen höchstens im Sportteil vor. Sport war immer schon globaler und demokratischer als andere Ressorts.

Martina Hingis 1996
Martina Hingis, Mitte der 90er-Jahre.Bild: imago

Die Welt, an der die alten Leute nach Kräften gebaut hatten, war eine Zumutung. Und wir muteten ihnen unseren jungen Widerstand zu. Jeden Tag. Und ungefragt. Ich schrieb Leserinnenbriefe gegen Artikel von anderen, aus denen ich Homophobie zu lesen glaubte. Ich ging zu einem prominenten Kollegen und fragte: «Wann in deiner langen Karriere hast du eigentlich schon mal über eine Frau geschrieben?» Er dachte nach und sagte: «Scheisse, nie.» Danach schrieb er einen Artikel über Angela Merkel und einen über Hillary Clinton. Immerhin.

Während meines Studiums hatte ich gefühlt einmal die Woche an einer Demonstration gegen Patriarchat, Kapital oder Faschismus teilgenommen, fast alle meine Seminararbeiten hatten im Zeichen feministischer Wissenschaft gestanden, ungläubig hatte ich älteren Herren aus Wissenschaft und Feuilleton zugehört, die erklärten, Frauen hätten in der Literaturgeschichte nichts zu suchen, weil sie ja ausser Tagebüchern nie was Grosses geschrieben hätten.

BEECHER-STOWE Oeuvre Chromo publicitaire sur Mme BEECHER-STOWE, l auteur de La Case de l Oncle TOM. Serie Les Bienfaiteurs de l Humanite. Credit Collection Kharbine Tapabor *** BEECHER STOWE Chromo ad ...
Die französische Luxus-Schokolade Chocolat Guérin-Boutron ehrt die amerikanische Schriftstellerin Harriet Beecher-Stowe, die 1852 mit dem Bestseller «Onkel Toms Hütte» «kraftvoll zur Emanzipation der Sklaven» beigetragen habe.Bild: Collection Kharbine Tapabor/ imago

Meine Mitstreiterinnen und ich fanden die angeblich inexistenten Frauen trotzdem. So, wie wir auch zu unseren diversen Identitäten fanden, obwohl wir das ganz ohne Internet tun mussten. Zu Beginn der 90er-Jahre eine frisch geschlüpfte Lesbe in der Schweiz zu sein, hiess, sich in den Untergrund zu begeben. In klandestinen Lokalen mit kryptischen Öffnungszeiten zu verkehren. Weder Öffentlichkeit noch Lobby zu haben. Juristisch aus ganz vielen Rahmen zu fallen. Prominente Vorbilder konnten wir an einer Hand abzählen – aber wer wollte schon wie die schrille Hella von Sinnen sein?

Hella von Sinnen, 1992
Promilesbe 1992: Hella von Sinnen.Bild: imago

Egal, ich werde nostalgisch, denn von damals aus gesehen, bin ich jetzt auch eine alte Frau, und ich ärgere mich, dass ich damals nie einen alten Menschen gefragt hatte, wie er oder sie uns Junge eigentlich sah. Ob wir nur lästig und naiv schienen. Oder ob es da auch etwas Gutes gab. Denn schaue ich auf die jungen Menschen von heute, so geben sie mir den Glauben an die Zukunft, den ich zwischenzeitlich mal zynisch beerdigt hatte, zurück.

Sie mögen nerven mit ihrer Rechthaberei. Mit ihrem Eifer, mit dem sie in jedes mögliche Opferbecken springen und sich darin suhlen. Mit ihrem oft engstirnig scheinenden Beharren auf grammatikalischen Gender-Finessen. Mit ihrer pathetischen Anklage in allem, was Umwelt betrifft.

Swedish climate activist Greta Thunberg, centre, speaks alongside fellow climate activists during a demonstration at Festival Park, in Glasgow, on the first day of the COP26 summit, in Glasgow, Scotla ...
Greta Thunberg, Gesicht und Stimme der globalen Klimabewegung.Bild: keystone

Aber im Grunde haben sie recht. Und es ist egal, dass sie kuschelbedürftige Snowflakes sein können, die einen mit ihren Fleischersatz-Produkte-Predigten in den Wahnsinn treiben – ihr Umgang untereinander ist besser, als es der meiner Generation war. Und ihr Umgang mit der Welt an sich auch. Wir hatten ein Interesse daran, dagegen zu sein. Sie haben ein Interesse daran, gut zu sein. Das ist ein wesentlicher Unterschied, auch wenn sie im Gefecht gelegentlich übertreiben und allzu gerne Gegner identifizieren und an den Pranger stellen.

Ich selbst stand auch schon am Pranger, einmal, weil ich in einem bestimmten Kontext keine Woman of color war, ein anderes Mal, weil ich zwar queer, aber nicht trans war. Zuerst war ich empört, dann fand ich es interessant und nicht unberechtigt, nach vielen Jahren der Anklage auch einmal auf der Anklagebank zu sitzen. Es war ein fruchtbarer Perspektivenwechsel.

This image released by HBO shows Zendaya, left, and Hunter Schafer in a scene from the series �??Euphoria." LGBTQ and gender inclusiveness on television has retreated slightly this season due to  ...
Diversity-Casting: Die trans Schauspielerin Hunter Schafer (rechts, hier mit Zendaya) spielt in der Serie «Euphoria» eine junge trans Frau.Bild: keystone

Trotzdem möchte ich den jungen Menschen etwas zurufen – aus Sicht der «alten Frau» und von einer, die in den Medien arbeitet und den Job hat, alles, auch die Jugend, zu reflektieren: Ihr Lieben, viele von uns sind auf eurer Seite. Greift die an, die euch angreifen. Seid denen gegenüber, die mit euch sind, aber vielleicht mal einen Fehler machen, weil sie eurem Erneuerungsgeist nicht ganz so schnell hinterherkommen, etwas gelassener, ihr verliert sonst Verbündete. Oder wie die weise Ruth Bader Ginsburg über den Kampf um die Geschlechtergleichheit sagte: «Echter Wandel, dauerhafter Wandel geschieht Schritt für Schritt.»

A pedestrian passes murals of the recently deceased U.S. Supreme Court Justice Ruth Bader Ginsburg, left, and rock guitarist Eddie Van Halen on Sunset Blvd., Friday, Oct. 16, 2020, in Los Angeles. (AP ...
Mut hat kein Geschlecht. Graffiti mit der 2020 verstorbenen Ruth Bader Ginsburg, beisitzende Richterin am Supreme Court der Vereinigten Staaten. Bild: keystone

Und: Die Formulierungen «Du hast mich beleidigt» oder «Ich bin verletzt» sind nicht diskursfähig und keine abschliessenden Argumente einer Diskussion, da müssen schon genauere, einleuchtendere Erklärungen kommen. Und: Macht euch nicht so oft rhetorisch zu Opfern. Opfer ist ein grosser Begriff, den Menschen für sich in Anspruch nehmen dürfen, die für ihr Dasein verfolgt, gefoltert und getötet werden.

Andererseits gehört gerade dies zum Jungsein und ist das Privileg der Jugend. Sie wäre nicht sie selbst, wenn sie nicht heissblütiger, starrköpfiger und herzgetriebener wäre als jede spätere Generation. Und wäre ich jetzt noch einmal jung, ich wäre mit Begeisterung ein Teil der heutigen Jugend. Ihrer Offenheit, ihres sensiblen Diversitätsbewusstseins, ihres globalisierten Geistes. Ihre Möglichkeiten der Entfaltung und Vernetzung scheinen unendlich.

Leute, es ist verdammt schön, dass ihr da seid. Oder wie ich in den 90ern zu sagen pflegte, wenn ich jemanden besonders mochte: Thanks for existing!

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133 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Snowy
02.02.2022 00:24registriert April 2016
Ist der Grossteil der heutigen Jugend wirklich so?

Auch abseits der Gymis und der Phil 1-Hörsäle…?
Es würde mich sehr freuen - ich bezweifle es aber stark.
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Uno
01.02.2022 20:45registriert Oktober 2019
Ich bin im Jahr 2019 per Zufall in Zürich an einer Klimademo vorbeigekommen. Es hat mich überwältigt zu sehen, wie viele junge Menschen daran teilnahmen. Als bald 50 Jähriger mag ich mich gut erinnern, wie ich noch in den 90er belächelt wurde und in einer gefühlten kleinen Minderheit war. Nun zu sehen, dass dieses Thema ernst genommen wird, weil es epochal die ganze Menschheit betrifft, freut mich (also nicht, dass wir das Problem haben - sondern, dass es nun viele Menschen verstehen, gerade junge Menschen) - Ich bin auch sehr erfreut über diese Jugend, Frau Meier.
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Bauchgrinsler
02.02.2022 04:12registriert Mai 2021
Ein weiterer Versuch wie seit eh und je, die Generationen in gut oder schlecht einzuteilen. Es gibt gute und schlechte Menschen und es spielt keine Rolle, welcher Generation sie angehören.
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Der Faschismus in Portugal – und wie mein Vater deswegen in ständiger Angst lebte
Die Nelkenrevolution am 25. April 1974 in Portugal ist 50 Jahre her. Sie war das Ende der faschistischen Ära unter António de Oliveira Salazar. Ein Mann, der das westlichste Land Europas mit eiserner Faust regierte. Dieser Artikel ist die persönliche Geschichte meiner Familie.

Es ist der 25. April 1974, kurz nach Mitternacht. Im Radio erklingt zweimal das Lied «Grândola, Vila Morena» (deutsch: Grândola, braungebrannte Stadt). Es ist das zweite Signal des Militärputsches gegen das faschistische Regime von António de Oliveira Salazar in Portugal, der eine ganze Nation befreien wird. Es ist die sogenannte Nelkenrevolution oder in Portugal auch einfach «der 25. April», welche das Ende des faschistischen Regimes in Portugal einläutete und die autoritäre Diktatur des «Estado Novo» (deutsch: Neuer Staat) stürzte.

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