Es ist Dienstag, 12 Uhr am Mittag, ich öffne ein Bier. Die kalte Flüssigkeit perlt verführerisch im Glas. Mmh, fein! Zurück an meinem Computer, der seit über einem Jahr im Homeoffice steht, arbeite und trinke ich weiter. Der Tag wird noch lange dauern, ich schreibe unter anderem an diesem Text.
Nein, ich bin keine Alkoholikerin. Das Bier, das vor mir steht, ist ein alkoholfreies, und das Gute an alkoholfreiem Bier ist, dass ich es zu jeder Tages- und Nachtzeit trinken kann - ohne mehr zu wollen, irgendwann betrunken zu sein, müde zu werden.
Ich trinke es, weil ich Lust auf den Geschmack habe und mich gut dabei fühle - nicht, weil ich die Wirkung von Alkohol ersehne. Früher war das anders:
Oft blieb es nicht bei einem Bier, zu gerne war ich beduselt, aufgekratzt, angetrunken - bis ich irgendwann müde, misslaunig, schläfrig wurde. Heute, nach fast fünf nüchternen Monaten, kann ich kaum noch nachvollziehen, was ich am Rausch so erstrebenswert fand.
Nein, ich war keine Alkoholikerin. Aber ich trank gern Alkohol. Nicht schon mittags, aber ein, zwei Mal in der Woche zum Feierabend, an einem, manchmal an zwei Tagen am Wochenende. Ich lag damit ziemlich genau im landesweiten Durchschnitt:
Zugegeben: Meine Studienzeit war wilder, ich feierte viel, Alkohol spielte dabei immer eine grosse Rolle. Nie besoff ich mich so heftig, dass ich mich übergeben musste, doch Blackouts gehören zu meiner Vergangenheit genauso wie der Flachmann, den wir in die Clubs schmuggelten, weil uns das Geld für viele Cocktails fehlte.
Als das Bedürfnis nach mehr (mehr Party, mehr Tequila, mehr Flirts) gestillt war, wurde Alkohol ein erwünschter Begleiter meines hedonistisch geprägten Erwachsenenlebens. Am liebsten trank ich Prosecco auf nüchternen Magen (weil es dann so schön «chlöpft»), zum Essen schweren italienischen Rotwein, Pastis in den Ferien in der Provence («das gehört einfach hier hin!»).
Alkohol bedeutete vieles für mich: Feierabend, Ferien, Freiheit. Loslassen, Genuss, Kultur. Mit einem Glas Alkohol in der Hand fühlte ich mich immer sicherer: sicherer im Umgang mit anderen, selbstbewusster im Auftreten, attraktiver, wortgewandter, gesprächiger - etwas, was ich in nüchternem Zustand vor allem vor Fremden nicht bin.
Dass Alkohol der Gesundheit nicht gerade zuträglich ist, wusste ich wie jede andere, die gern trinkt. Und obwohl ich mich bewusst ernähre und Sport treibe, habe ich das Wissen um die schädlichen Folgen meines Konsums lange ignoriert. Bis es sich eines Tages nicht mehr richtig anfühlte, dass ich Alkohol so viel Bedeutung schenkte. Bis ich mich dazu entschloss, mit Trinken aufzuhören.
Seit dem 1. Januar dieses Jahres bin ich durchgehend nüchtern - freiwillig. Keine Ärztin hat mir dazu geraten. Wieso ich das betone? Weil für viele der Schritt zur Nüchternheit kein freiwilliger ist, und schon gar kein leichter. Ist die körperliche und seelische Abhängigkeit erst einmal da, ist Trinken eine Sucht, die gestillt werden muss - oder die Entzugserscheinungen werden gefährlich.
Falls man glaubt, ein Alkoholproblem zu haben, lässt man dies am besten von einer Fachperson abklären (siehe Infos oben). Ich konnte zwischendurch immer gut auch ohne. Doch Wochen vor meiner Entscheidung begann ich, viel über Alkohol nachzudenken. Ich fragte mich:
Ich wollte meine «Alkoholtage» auf zwei pro Woche reduzieren, was mir selten gelang. Zu oft waren da irgendwelche Anlässe, die mir, so glaubte ich, einen Strich durch die Rechnung machten (ich hatte Stress, wir hatten Besuch, ich traf eine alte Freundin, zu Lasagne gehört ein Glas Wein und so weiter).
Hin und wieder trank ich über den Durst - Rauschtrinken beginnt laut Angaben des Bundesamts für Gesundheit für Frauen bei drei bis fünf Gläsern innert sechs Stunden. Das schaffte ich locker.
Was mir Alkohol gab: Genuss während der ersten Schlucke. Einen kleinen, angenehmen Kontrollverlust. Witz. Was er mir nahm: die letzte Kontrolle, guten Schlaf, Joggen am Morgen im taufrischen Wald, einen klaren Kopf.
Weil ich, anders als noch mit zwanzig, häufig mit kleineren und grösseren Katern kämpfte, mied ich immer öfter Tätigkeiten, bei denen ich normalerweise Alkohol trank. So kam es vor, dass ich Verabredungen absagte, weil ich nichts trinken wollte an dem Tag - unvorstellbar war für mich, hinzugehen und einfach keinen Alkohol zu trinken.
Ständig traf ich also kleine Entscheidungen:
Ich grübelte über Häufigkeit und Mengen. Am Ende war es kein besonderes Ereignis, das mich aufhören liess. Vielmehr war es meine zu enge Beziehung zu Alkohol, die mir irgendwann zu verstehen gab:
Wir leben in einer Kultur, in der Alkohol fest verankert ist. Warum, wo er uns doch so viel Schaden zufügt? Was mir früher nie aufgefallen ist: wie oft man in Filmen und Serien Alkohol trinkt. Jeden Tag ziehe ich Werbung für Wein und Bier aus dem Briefkasten.
Der Konsum von Alkohol wird überall verteidigt: «Ein Gläschen Wein ist gut fürs Herz!»
Suchtprävention versickert irgendwo zwischen «geht mich nichts an» oder «jaja, ich weiss schon». Auch ich hatte bis vor kurzem kein offenes Ohr für Menschen oder Artikel, die von einem gesunden Umgang mit Alkohol erzählen. Stattdessen glaubte ich, dass Menschen mit Alkoholproblemen zu schwach sind, um sich im Griff zu haben. Selbstverständlich habe ich mich von diesen Menschen abgegrenzt.
Ich wusste einfach nicht, dass Alkohol mehr Todesfälle als Medikamente und illegale Drogen zusammen verursacht (8.4 Prozent aller Todesfälle). Ich war überzeugt, dass es nur zwei Gründe gibt, warum eine Frau keinen Alkohol trinkt: Entweder sie ist schwanger, oder sie ist Alkoholikerin. Alkohol ist nicht gesund, das wissen wir. Aber:
Dabei war es noch nie so einfach, keinen Alkohol zu trinken. Brauhäuser und Spirituosenhersteller lassen sich einiges einfallen, um den seit Jahren rückgängigen Alkoholkonsum in der Schweiz abzufangen. Ich musste zuerst herausfinden, dass es gute alkoholfreie Biere gibt, stark und fruchtig gehopft, nicht süss, nicht wässrig.
Es gibt alkoholfreien Martini, ein erstaunlich grosses Angebot an alkoholfreien Gins oder einen Sirup, der wie Aperol schmeckt und sich hervorragend mit alkoholfreiem Sekt mischen lässt.
Die Coronakrise lässt ausfallen, was ich früher nicht verpassen wollte - und wo viel Alkohol floss: Vernissagen, Konzerte, grosse Familientreffen, Hochzeiten.
Dazu kommt: Verzicht ist in. Wir verzichten auf Fleisch, Zucker oder Milchprodukte, auf Autos und neue Kleider. Viele erkennen, dass das, was sie «brauchen», eben auch abhängig, vielleicht unglücklich oder ungesund macht: das Handy, das übertriebene Training, das Feierabendbier, der Rausch.
«Sober Curious» nennt sich der Trend zur Abstinenz: nüchtern neugierig. Eine hierzulande wenig bekannte Bewegung samt Ratgeberliteratur, Podcasts, Partyreihen und Instagram-Posts.
Etwas, das in meiner Zeit als junge Erwachsene, in den Nullerjahren, noch kein Thema war. Verzicht war nicht sexy, sondern langweilig. Eine Überzeugung, der ich auch heute begegne, wenn ich bei einer Einladung das Glas Wein dankend ablehne:
, fragt man mich mit grossen Augen, meist mehrmals pro Abend. Nüchtern wird gleichgesetzt mit ernsthaft, vernünftig, streng, leidenschaftslos, wenig abenteuerlustig.
Charismatisch ist, wer auch einmal Unvernünftiges tut, Kontrolle abgibt, in den Tag beziehungsweise in die Nacht hinein lebt.Alkohol geht mit diesen Bildern Hand in Hand, und genau das will Alkoholwerbung vermitteln: Menschen, die trinken, haben Spass und Freunde, erkunden die Natur, sind Freigeister.
Mit diesem Imageverlust kämpfe ich: Ich, die feiern und tanzen konnte bis in die Morgenstunden, die als Gastgeberin immer noch eine Flasche aufmachte, damit die Gäste ja nie auf dem Trockenen sitzen. Ich, die 15 verschiedene Sorten Côtes de Provence am Geschmack erkennt, soll jetzt langweilig sein?
Das hat vor allem physikalische Gründe. Alkohol ist ein Zellgift, das sich über die Blutbahnen im ganzen Körper verteilt und kurz- wie langfristig Auswirkungen auf Psyche und Physis hat. So hemmt Alkohol etwa die Wahrnehmung von Gefühlen - darum hilft ein Glas Wein auch so rasch, wenn es einem emotional schlecht geht. Alkohol hemmt aber auch die guten Gefühle, zerstört mit der Zeit Mut und Selbstvertrauen.Seit ich keinen Alkohol mehr trinke, bin ich grundsätzlich unbeschwerter, fröhlicher. Aber manchmal eben auch schneller traurig oder genervt, was ich jedoch besser ertragen kann, weil ich ohne die Nachwirkungen von Alkohol weniger müde und darum weniger gereizt bin.
Jahrelang dachte ich, mehrmaliges Aufwachen in der Nacht sei normal. Ohne Alkohol schlafe ich durch wie ein Murmeltier. Tagsüber bin ich nie mehr müde. Ich kann mich immer für Sport motivieren. Meine Konzentrationsfähigkeit hat sich verbessert, und ich fälle schneller Entscheidungen. Ich spüre meinen Körper besser, merke sofort, wenn ich etwas brauche, etwa Ruhe oder Bewegung. Seit ich keinen Alkohol mehr trinke, hatte ich kein einziges Mal mehr Bauchweh. Mir geht es sehr gut.Es schmerzt, doch es ist auch befreiend, wenn man sich selbst erkennt. Ja, so bin ich: ruhiger, als ich dachte. Besonnener. Und manchmal wohl auch etwas langweilig. Dass ich immer noch ich bin, auch ohne Glas in der Hand, muss ich erst noch lernen.
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"Nein, ich war keine Alkoholikerin."
Aber da steht doch was von Exzessen, Kater, Kontrollverlust, Alkoholproblemen?
Mein Feierabendbier machte schon viele Sportübertragungen spannender und gut schlafen kann ich dank dem ganz ohne Medikamente. Spukt wohl nicht in jedem gleich rum. Man muss sich ja auch nicht gleich immer besaufen.