«Severance» von Ling Ma
Na? Auch genug davon, dass im Zusammenhang mit Corona immer «Decamerone» und «Die Pest» zitiert werden? Gibts da nichts Frischeres, Jüngeres, vielleicht mehr im Stil von «The Walking Dead»? Doch! Natürlich! Als hätte sie hellsehen können, publizierte die chinesisch-amerikanische Autorin Ling Ma vor zwei Jahren «Severance», den Seuchen-Science-Fiction-Roman, den man 2020 lesen muss.
Candace Chen, eine Millenial mit abstrusen Jobs – sie betreut zum Beispiel Sonderausgaben der Bibel –, lebt in Manhattan, als eine Seuche die Welt lähmt und die Gehirne der Befallenen aufweicht. Candace schliesst sich einer Guerillagruppe an, die Infizierte tötet und in einer Mall zu überleben versucht. Draussen verrottet die Welt. Drinnen leeren sich die Snackautomaten und die Aggressionen blühen. Fesselnde Dystopie, der klar ein paar Romero-Zombie-Filme zugrunde liegen und die man im Jahr von Corona mit fatal vielen Wiedererkennungseffekten liest. Allerdings immer noch erst auf Englisch. Simone Meier
«Ein wenig Leben» von Hanya Yanagihara
Wieso ich es empfehle? Das Buch ist nicht nur sprachlich wunderschön gestaltet, sondern auch dramaturgisch wie aus einem Guss. Themen wie Freundschaft, Ehrlichkeit, Selbstliebe, Selbsthass, Unsicherheit und Liebe werden ohne jegliches Pathos, ohne Kitsch, ohne Perfektion ineinander geflochten und weben so ein dichtes, bewegendes Abbild des Lebens, das wir alle bis zu einem gewissen Grad kennen. Dieses von aussen zu betrachten, ist sowohl spannend als auch auf heilsame Art und Weise verstörend. Mit diesem Buch hat Hanya Yanagihara dem Leben selbst ein Denkmal gesetzt. Intensive, aber bereichernde Sommerlektüre. Jodok Meier
«Allegro Pastell» von Leif Randt
Wenn einer Webdesigner ist und Jerome heisst, weiss man: Hallo, zeitgeistiger Milieuroman! Und wenn dann dieser Jerome auch noch mit einer schriftstellernden Tanja, die gerade an ihrem zweiten Buch herumdoktert, zusammen ist oder eben nicht und dies vornehmlich in Berlin, dann ist eh klar, dass man sich in einer Art Hipster-Ursuppe befindet. Und dass Jerome und Tanja, die räumlich und seelisch eine Art gepflegte Fernbeziehung leben, ganz gewaltige Nervsäcke sein müssen.
Und ja, sie sind es. Aber wenn man mal unter die von Leif Randt enorm süffig und geschmeidig geschriebene Selbstbespiegelungs-Oberfläche geglitten ist, kommen da so einige verdachtsweise schwer authentische Neurosen, Ängste und Empfindlichkeiten der Generation um die Dreissig zum Vorschein. Und so lieben und trennen und lieben und trennen sie sich denn, bis ... Das sei hier nicht verraten. Simone Meier
«Hexenjagd – Die Angst vor der Macht der Frauen» von Silvia Federici
Federici ist eine der wichtigsten feministischen Intellektuellen unserer Zeit. Keine hat die Diskussion über die unbezahlte Reproduktionsarbeit so geprägt wie die bald 80-jährige Italienerin. In ihrem Buch «Caliban und die Hexe» zeigte sie schon vor ein paar Jahren, wie die Verbreitung des Kapitalismus in Europa im 16. und 17. Jahrhundert einherging mit der Hexenverfolgung und -verbrennung. Das Buch gilt inzwischen als wichtige Grundlage für den materialistischen Feminismus. Mit «Hexenjagd» erschien dieses Jahr eine gekürzte und verständliche Zusammenfassung von «Caliban und die Hexe». Perfekt also, um dem von der Sonne lädierten Gehirn ein bisschen politische Bildung zu gönnen. Sarah Serafini
«Fleishman steckt in Schwierigkeiten» von Taffy Brodesser-Akner
Toby Fleishman ist kein Beau, 41, Arzt, frisch geschieden und kann sich vor Sexangeboten fast nicht mehr retten, so paradiesisch grosszügig zeigt sich ihm plötzlich das New Yorker Dating-Leben. Ein Männertraum wird wahr und bleibt es auch ziemlich lange. Bis seine Ex ebenfalls zur Selbstbefreiung schreitet. Taffy Brodesser-Akner ist eine der prominentesten Promi-Journalistinnen Amerikas und gelangte mit ihren Star-Porträts in der «New York Times» zu Weltruhm. Jetzt legt sie mit Fleishmans Abenteuern einen sagenhaft unterhaltsamen New Yorker Gesellschaftsroman vor. Simone Meier
«Die vielen Leben des Harry August» von Claire North
Die Geschichte greift die Thematik der Zeitschleifen auf, spannt sie aber um einiges weiter als noch bei «Und täglich grüsst das Murmeltier». Die Erzählstruktur ist entsprechend nicht linear, daher muss man beim Lesen bei der Sache bleiben. Dafür erlebt man ein tolles Katz-und-Maus-Spiel, das sich über Jahrzehnte erstreckt, nur um dann wieder neu gestartet zu werden. Ein Buch über die Bürde des Wissens und die Schattenseiten des ewigen Lebens. Pascal Scherrer
«Around the World in 80 Trains» von Monisha Rajesh
Wie blöd, dass dieses fantastische Reisebuch erst im März 2021 auf Deutsch erscheint! Aber auch dann werden wir noch damit beschäftigt sein, unsere Reisegewohnheiten ökologischer zu denken. Und wer viel reist, versteht ja normalerweise auch ziemlich gut Englisch. Monisha Rajesh ist eine britische Reisejournalistin, die sich dem Zugfahren verschrieben hat, sie reiste schon in 80 Zügen durch Indien und jetzt auch um die ganze Welt. Ein nicht zuletzt kommunikatives Abenteuer, das – im Gegensatz zum Fliegen – den Vorteil hat, enorm vieles zu sehen und stets mitten im Herz jeder neuen Destination anzukommen. Simone Meier
«Hippie: Eine inspirierende Reise nach Kathmandu» von Paulo Coelho
Zwei Hippies reisen in den 1970ern auf dem Hippie-Trail von Amsterdam nach Nepal. Es ist wunderbar geschrieben, versetzt einem in Corona-Zeiten zumindest in Gedanken in ferne Länder und weckt die Lust auf Abenteuer. Adrian Müller
«Normal People» von Sally Rooney
Die BBC/Hulu-Serie «Normal People» (jetzt auch auf Amazon) hat im Frühling in Grossbritannien zu einem neuen Höhenrausch in der allgemeinen Hysterie um die 29-jährige irische Bestsellerautorin Sally Rooney geführt. Schuld daran sind die beiden übercharismatischen Jungstars Paul Mescal und Daisy Edgar-Jones (sie sind auf dem Bild, auf das ihr für diesen Artikel geklickt habt) in den Rollen vom Connell und Marianne. Zwei, die einfach nicht richtig zueinander zu finden wagen, obwohl sie füreinander bestimmt sind und dabei auch Uuuuunmengen Sex haben.
Die Serie ist sehr hübsch, aber Rooneys gleichnamiges Buch ist besser: Weil es da nicht nur um den Sex und die von allem abgekoppelte Dromanze (Drama + Romanze = Dromanze) geht, bei der oft unverständlich bleibt, wieso sich die beiden gerade wieder (nicht ganz) trennen. Nein, im Buch wird mehr und Interessanteres diskutiert, etwa der Klassenunterschied, der das junge Un-Glück beeinträchtigt, oder Literatur. Ab 17. August unter dem Titel «Normale Menschen» auch auf Deutsch. Simone Meier
«Exciting Times» von Naoise Dolan.
Die Autorin ist 28, wie Sally Rooney ebenfalls Irin und ihre Entdeckerin heisst ... Sally Rooney! Wie bei Randt und Rooney treffen wir auch bei ihr auf sehr junge Menschen, die eigentlich füreinander geschaffen wären, aber sich aus schneeflöckliger Angst vor allzu grossen Verletzungen lieber nicht so richtig aufeinander einlassen.
Dolan verpflanzt ihr Personal jedoch ans andere Ende der Welt, nämlich nach Hongkong. Dort trifft Expat Ava, Anfang 20 und Englischlehrerin für Kinder, auf Expat Julian, Ende 20 und Banker. Sie zieht bei ihm ein. Ob sie ihn liebt oder er sie, ist ungewiss, jedenfalls ist sie total in seine Wohnung verknallt. Als er auf einem Business-Trip ist, lernt sie die chinesische Anwältin Edith kennen und ... lieben? Nicht ganz so smart (und romantisch) wie Rooney, aber ein scharfer, amüsanter Blick auf die Expat-Szene in einer attraktiven und ziemlich schillernden Kulisse. Bisher erst auf Englisch erhältlich. Simone Meier
«Shenzhen, die Weltwirtschaft von morgen» von Wolfgang Hirn
«Wer wissen will, wie – im Guten wie im Bösen – die Welt von morgen aussehen könnte, der muss nach Shenzhen fahren», schreibt Wolfgang Hirn in der Einleitung zu diesem Buch. Hirn ist ein deutscher Wirtschaftsjournalist, der sich schon seit Jahrzehnten mit China und dessen Entwicklung befasst. Die Millionenmetropole war bis in die Achtzigerjahre ein unbedeutendes Fischerdorf. Heute ist sie Chinas Vorzeigestadt, Heimat bedeutender chinesischer Unternehmen wie den IT-Giganten Huawei und Tencent oder dem Versicherungskoloss Ping An.
Anders als das kalifornische Hi-Tech-Mekka Silicon Valley besitzt Shenzhen auch eine handwerkliche Basis. Man findet für jeden Zweck den geeigneten Fachmann und für jedes Problem eine Lösung. Dazu ist die Bevölkerung jung und äusserst dynamisch. Dank künstlicher Intelligenz wird alles bis ins Detail überwacht und organisiert. Das hat eine bedrohliche Seite – Big Brother lässt grüssen.
Es hat jedoch auch eine positive Seite. Shenzhen ist eine grüne Stadt in jeder Hinsicht. Keine andere chinesische Stadt verfügt über so viele und so grosszügige Parks. Keine andere Stadt ist so weit mit der Dekarbonisierung fortgeschritten. Busse und Taxis dürfen nur noch elektrisch angetrieben sein. Bald wird dies auch für sämtliche Autos und Zweiräder der Fall sein. Grosszügige Subventionen für Elektroautos und harte Sanktionen für alle anderen sorgen dafür, dass dies kein leeres Versprechen bleibt. Philipp Löpfe
«Unsere asiatische Zukunft» von Parag Khanna
Aus einem breiteren Winkel befasst sich der indische Publizist Parag Khanna mit dem Fernen Osten. Seine These ist unmissverständlich: Der Westen hat ausgedient. Dafür wird allein die Anzahl Menschen sorgen. Khanna schlägt Russland, den Iran und die Türkei grosszügig Asien zu und kommt so zum Schluss, dass zwei Drittel der Menschheit Asiaten sind. China ist selbstverständlich auch für Khanna die zentrale Macht in Asien, jedoch nicht ausschliesslich. Das Reich der Mitte ist «keine Insel, die über Asien schwebt. Mit mehr Nachbarn als jedes andere Land ist es vielmehr eingebunden ins asiatische Wirtschaftssystem und davon in vorteilhafter Weise abhängig».
Spätestens seit der Finanzkrise hat der Westen als Vorbild für die Asiaten ausgedient und wurde – gemäss Khanna – von Singapur abgelöst. Die westliche Demokratie wird als korrupt betrachtet und als unfähig, die Probleme der Zukunft meistern zu können. Khannas Fazit ist ernüchtern: «Es ist sehr unwahrscheinlich, dass westliche Ideen über diese asiatischen Vorstellungen triumphieren werden», stellt er fest. «Im Gegenteil, in den kommenden Jahrzehnten werden die Sentimentalen bestraft werden. (…) Die asiatische Technokratie beweist bereits heute, dass sie die Zukunft mindesten so gut, wenn nicht besser als der Westen meistern kann.» Ob China oder Asien, beide werden das 21. Jahrhundert massgeblich prägen. Zeit also, sich damit zu befassen. Philipp Löpfe
«Frankissstein» von Jeanette Winterson
1816 schreibt Mary Shelley am Genfersee «Frankenstein». Und wir sind dabei und erleben hautnah mit ihr die berühmteste und erotisch aufgeladenste Literatur-WG aller bisherigen Zeiten. Dann Szenenwechsel: Was wäre, wenn ein Nachfahre der Shelley und jemand wie Victor Frankenstein heute leben würden? Wenn sie dabei nicht nur den fortgeschrittensten Sexpuppen, sondern visionären Techniken der Veränderung, Bewahrung und Kopierbarkeit des Menschen begegneten? Und sich dann erst noch ineinander verlieben würden?
Ein absolut verrücktes, hinreissendes, mit den aktuellsten Wissenschafts- und Geschlechterdiskursen wild jonglierendes Buch. Und Winterson, die schon seit Jahrzehnten eine ganz grosse Lady des angelsächsischen Literaturbetriebs ist, hat sich zu ihrem 60. Geburtstag einen vibrierend frischen, ungewöhnlichen Roman gegönnt. Simone Meier
«Schlachthof und Ordnung» von Christoph Höhtker
Und noch mehr Crazyness. Und wie der Original-«Frankenstein» in Genf entstanden. Denn da lebt der Bielefelder Autor Christoph Höhtker seit vielen Jahren. In seinem vierten Roman setzt er die Welt unter eine Droge. Marazepam. Sie hat die Eigenschaft, so ziemlich jedes Problem zu lösen. Weshalb sie auch alle brauchen. Zu was Gutem führt sie natürlich trotzdem nicht. Und so mäandern wir mit Dutzenden von Figuren durch immer surrealere Fantasien und Psychosen, sehen ihnen beim Terroranschlag oder bei der Selbstverstümmelung zu, und das ist bei aller Drastik sehr, sehr lustig. Nach einer zusammenhängenden Geschichte darf man nicht suchen, sonst wird man so verrückt wie das Buch, es ist ein irrlichterndes Mosaik des Irrsinns. Simone Meier
«Talking to My Daughter; a Brief History of Capitalism» von Yanis Varoufakis.
Weil ich ja auch eine Tochter habe. Oliver Baroni
«Das war nicht ich» und «Arztroman» von Kristof Magnusson
Beim Bücherkistenpacken für den grossen Umzug wieder entdeckt: die Romane des in Berlin lebenden Isländers Kristof Magnusson. Sehr, sehr nice Unterhaltungsliteratur mit viel isländischer Ironie. In «Das war nicht ich» kreuzen sich die Wege eines Investment-Bankers, eines Bestsellerautors und seiner Übersetzerin. Natürlich befinden sich alle in schweren Krisen, sonst wärs ja nicht lustig. Und «Arztroman» ist – genau, ein Arztroman, der im Berliner Urban-Krankenhaus spielt und sich mit unzähligen Stadt-Themen beschäftigt, die nicht nur in Berlin zuhause sind. Simone Meier
Können wir für einen Moment festhalten, dass von insgesamt 16 Empfehlungen neun von Simone Meier stammen und ich sie dafür feiere?!?
Dankeschön.
Im Studium muss ich schon so viel lesen, da brauche ich gut verdauliche Kost.
In den Ferien widme ich mich dann den Thrillern, Krimis, Biografien und historischen Romanen.
Danke für die Tipps 😊