«Endlich, du bist wieder da!», sagte Nicole, als Roger sich neben sie ans Pult setzte.
«Ja», sagte er knapp.
«Das mit deinem Vater tut mir so leid, Roger. Und dass ich in den Ferien war, auch. Das Leben timet die Dinge anscheinend am liebsten so, dass die Figuren im wichtigsten Moment aneinander vorbeiziehen.»
«Es war eher der Tod», sagte Roger.
«Stimmt. Wie geht's dir?»
«Na ja, ich wohne grad bei meiner Mutter.»
«Oh, auch das tut mir leid.»
«Geht schon», winkte er ihr Mitleid ab. Mit der Hand, die Nicole vor fünf Jahren zum ersten Mal geschüttelt hatte und die so schwitzig gewesen war, dass sie von der ihren abrutschte und erst im letzten Moment noch an ihren Fingern Halt fand. Jetzt aber schien jegliche Kraft daraus entwichen zu sein.
«Ich muss auch schon wieder», sagte er und stand auf.
«Wohin?», fragte Nicole.
«Meeting mit HR-Hugo.»
«Wegen der neuen Unternehmenskultur?»
«Wahrscheinlich, in der Einladung stand nur: ‹Pierce the future!›»
Nicoles Augenbrauen hoben sich. «Ja, das ist der Slogan, unter dem wir jetzt arbeiten. Einer mit ‹visionärer Strahlkraft›, wie es im Townhall-Meeting geheissen hat. Mich erinnert's eher an einen riesigen, bohrenden Penis. Dem allerdings 75 Leute im Wege gestanden haben müssen.»
«Ja, ich hab von den Entlassungen gehört», sagte Roger tonlos und schlurfte in Richtung der Aufzüge davon.
Wie verloren er aussah.
Und wie verloren er war.
Der Aufenthalt im Hause seiner Mutter hatte diesen Umstand nicht unbedingt gelindert. Es fühlte sich seltsam an, wieder bei ihr zu sein, im selben Bett zu schlafen, in dem er schon als Teenager geschlafen hatte. Auch das Zimmer war noch immer so, wie er es einst verlassen hatte. An der Wand hing das Poster von Alf, schräg aufgehängt, weil das extrem cool war. Und Roger wollte extrem cool sein.
Stattdessen fühlte er sich dort jetzt wie ein Anachronismus im eigenen Leben. Wie sollte er so den Tod von Josef verarbeiten? Alles in diesem Haus schrie nach ihm, schrie laut und leer nach diesem Mann, der sein Vater gewesen war und von dem er nichts wusste. Alles war beherrscht von diesem einen Bild, Josef Fässler, rauchend und betrügend in seinem blöden Designer-Sessel. Es besetzte Rogers ganzen Kopf und legte sich über die anderen Erinnerungen, erstickte sie, bevor sie ihre Geschichte erzählen konnten.
Weh tat es trotzdem. Jedes Mal, wenn er ins Haus trat. Und jedes Mal, wenn er es wieder verliess. Dazwischen auch. Es war, als steckte sein Herz in einer Presszange und immer, wenn ihm das Ableben seines Vaters in den Sinn kam, drückte irgendwer die Schenkel zusammen. Der Verlust war echt, egal wie lügnerisch das Leben gewesen war, das verloren gegangen war.
Die neue Unternehmenskultur kam also wie gerufen. Sie versprach Authentizität auf allen Ebenen. Transparenz und Offenheit obendrauf. Ein Fragezeichen mehr würde Roger auch nicht ertragen.
«Du bist immer der Engagierteste im ganzen Team gewesen», meinte HR-Hugo gewichtig, nachdem Roger in seinem Büro Platz genommen hatte. Dann machte er eine Pause und genoss die Verwirrung seines Gegenübers.
«Die Geschäftsleitung hat dich zum Values Ambassador ernannt!», eröffnete ihm HR-Hugo. Dann öffnete sich sein Mund, dem nun ein enthemmtes «Ahhhh!» entwich, während seine Hände wie die eines überdrehten Fan-Boys in der Luft herumwuselten.
Das war etwas viel Emotion im Verhältnis zum dürftigen Kenntnisstand, über den Roger aktuell verfügte. HR-Hugo bemerkte die Diskrepanz und fügte hinzu: «Die Geschäftsleitung hat fünf neue Werte lanciert. Sie sind der Kompass, nach dem wir unser Denken und Handeln ausrichten, sie verkörpern unsere ganze Philosophie. Deine Aufgabe wird es sein, sie an die Belegschaft weiterzugeben – als ihr Botschafter.»
Und er würde dies zusammen mit Rita tun, ihres Zeichens die neue Assistant Values Ambassador.
Roger wurde rot. «Rita vom HR?», fragte er unsinnigerweise nach.
«Rita vom HR», bestätigte HR-Hugo.
Eben hatte sie ihm in der Kirche noch ihre Hand gereicht und nun sassen sie gemeinsam im Besprechungszimmer und sprachen über PINOT. PINOT, das stand akronymisch für die fünf Values, die es zu verinnerlichen galt: P für Positivity, I für Inspovation, N für Need, O für Ownership und T für Tolerance. PINOT solle in den Mitarbeitenden reifen wie im französischen Eichenfass, hatte Rita gesagt.
Und auch in Rogers leergeräumtem Ich fand er unverzüglich ein Zuhause: PINOT war der Wertekatalog, nach dem er künftig seine gesamte Inneneinrichtung gestaltete.
Umso mehr, nachdem er von Rita erfahren hatte, dass Inspovation den Magic Moment meine, in dem Inspiration und Innovation zusammenprallen und bäm, ein neuer Weg entstünde.
Es klang so verführerisch, und er sah sich bereits, wie er auf diesem wundersamen Pfad aus seinem alten Leben hinaus spazierte. Hand in Hand mit Rita, trunken vom PINOT, vom Laben an ebenjenem identitätsspendenden Quell drangen sie nicht nur in die Zukunft vor, sondern gestalteten diese gleich selbst. Eigenverantwortlich legten sie leuchtende Fliesen unter ihre Füsse, sich gegenseitig immer zu waghalsigeren Farben inspirierend, lustwandelten sie auf ihrem selbst verlegten Regenbogen ins Glück.
Ja, es ging Roger deutlich besser nach diesem Meeting. Er verspürte endlich wieder die Lust, etwas zu reissen. Die nächsten Tage bereitete er in gewohnt verbissener Weise den interaktiven Values-Workshop für die Mitarbeitenden vor. Die Mail dafür hatte er bereits verfasst; mit minimaler Hilfe von ChatGPT.
«Nicole», sagte er am Freitag kurz vor Feierabend, «ich glaub, ich hab's.»
«Was hast du?»
«Den Satz meines Lebens.»
«Oh, wow, raus damit!»
«In unserer Unternehmenskultur ist Toleranz nicht nur Akzeptanz, sondern gelebter Respekt.»
Das Lachen, das nun aus Nicole herausplatzte, war laut, aber nicht von allzu langer Dauer. Als sie sah, was es in Rogers Gesicht anrichtete, verstummte sie sofort.
«Roger, das ...»
«Du hast nichts verstanden, Nicole. T wie Tolerance. Wo ist deine?»
«... auf Mallorca geblieben?»
Roger schaute sie an und schüttelte den Kopf. «Wenigstens von dir hätte ich mir einen echten Dialog erhofft.»
Nicoles Augen begannen zu funkeln: «Echt?! Roger, du erkennst Echtheit nicht einmal, wenn sie nackt vor dir steht.»
Sie stand auf. «Ich brauch eine Zigarette. Eine echte», fügte sie hinzu, und bereute es sofort. Den Zynismus hätte sie sich sparen können. Aber sie war zu wütend. Wütend, dass sie nicht da gewesen war für Roger. Und dass statt ihrer Rita da gewesen war.
«Du bist doch nur eifersüchtig! Wärst wohl selber gern Values Ambassador geworden! Tja ...!» rief Roger Nicole hinterher, in ihre trüben Gedanken hinein. Dann griff er zur Nippon-Packung.
Rita hegte keinerlei schlechte Absichten, da war sich Nicole ganz sicher. Sie war nur ein Mensch ohne viel eigene Aussagekraft. Ein Mensch, der sich Dinge wie Firmenwerte in gewünschter Weise einzuverleiben verstand. N für Need. Was aber, wenn man seine eigenen Bedürfnisse missverstand? Roger war ein Meister darin. Sobald er ein Loch in seinem Wesen witterte, stopfte er es mit egal was. Mit Dämmwolle, mit Trends, mit corporate values. Und Nicole musste das unzulängliche Material dann wieder mühselig aus ihm herauspulen. Die Frage war bloss, was sie ihm stattdessen anbieten konnte. Dieses Mal hatte sie es mit der gigantischen Lücke zu tun, die der Tod des Vaters in ihrem Freund hinterlassen hatte.
Roger ging nicht zum obligaten Bier im Toro Loco gleich nebenan. Er wollte Nicole nicht noch einmal begegnen. Er wollte überhaupt niemandem mehr begegnen und am wenigsten seiner eigenen, abgezehrten Visage, die ihm im Spiegel des Männerklos entgegenstarrte. «Shape up!», befahl er ihr, doch sie shapte nicht up. Verdammte Nicole! Seine ganze Positivity, seinen frisch gewonnenen Lebensmut derart gnadenlos einzustampfen. «Welcher Mensch tut sowas?», fragte sich Roger. «Nimmt einem Trauernden das eine Taschentuch weg, das seine Tränen hätte trocknen können. Na warte nur, ich werd es mir zurückholen! O wie Ownership!», schrie er nun in den Spiegel, der sich nach wie vor weigerte, diesen sprühenden Kampfgeist angemessen auf sein Gesicht zu übertragen. Auch das Backenrütteln, das Roger nun anwendete, half wenig.
Und so verliess er das Klo und dann das Büro und machte sich auf den Weg zu seiner Mutter, die ihn bereits hinter einem dampfenden Fleischkügeliberg erwartete.
Mitten in der Nacht wachte er auf. Er schaute auf die Uhr, es war halb drei. Er stand auf, um einen Schluck Wasser zu trinken, aber als er in den Gang trat, hörte er ein leises Murmeln. Vorsichtig schlich er sich nach vorne zur Galerie, von wo aus er das gesamte Wohnzimmer überblicken konnte. Er sah einen Kreis aus Kerzen, sie waren um den väterlichen Teppich-Brandfleck herum arrangiert worden. Seine Mutter stand in dessen Mitte und liess den Raum mit ihren flatternden Bewegungen erzittern. Sie hatte die Fledermaus-Ärmel ihres Morgenmantels über die Flammen gebreitet, tanzte auf blossen Füssen, hielt sie über die Feuerzungen und stampfte dann eine nach der anderen aus. Dabei flüsterte sie noch immer etwas, Roger lehnte sich übers Geländer in der Hoffnung, so besser hören zu können. Aber erst als der Raum ganz im Dunkeln lag, verstand er ihre Worte, die nun wie ein Echo ihrem vorangegangenem Tun hinterher hallten.
«Ubi pedes meos ponerem?», flüsterte Esther Fässler durch die vom Wachsdampf erfüllte Luft. «Ubi, ubi, ubi.» Dann war alles still.