Coco Chanel sagte einmal, bevor man das Haus verlasse, solle man in den Spiegel schauen, und etwas ablegen oder ausziehen. Einen Schal, eine Kette, Handschuhe, irgendeins der Accessoires, mit denen man sich geschmückt hat. Weil? Stil halt. Verzicht. Schlichtheit. Iris Apfel war ein Leben lang dagegen. Genug war nie genug, Sie war immer dafür, noch mehr anzuziehen. Noch Bunteres. «Farben können Tote wieder zum Leben erwecken!», war eins ihrer Bonmots und «mehr ist mehr, weniger ist langweilig.»
Auch Geburtstage konnte sie nicht genug feiern. Jedenfalls nach ihrem Hundertsten. Da feierte sie jedes halbe Jahr Geburtstag. Denn jeder konnte der letzte sein. Am 29. Februar 2024 wurde sie einhundertzweieinhalb Jahre alt. Tags darauf starb sie in ihrem Haus in Palm Beach, Florida.
Sie war das älteste Model der Welt. Doch das war eine Karriere, die sie erst spät begonnen hatte, einen richtigen Model-Vertrag erhielt sie mit 97. In ihrer ersten Laufbahn war sie eine der wichtigsten Textilunternehmerinnen der USA gewesen. Neun Mal hatten sie und ihr Mann Carl mit ihrem Unternehmen Old World Weavers das Weisse Haus neu tapeziert und für Möbel- und Vorhangstoffe gesorgt, ihre Spezialität war die Rekonstruktion alter Stoffe aus dem 17., 18. und 19. Jahrhundert.
Sie waren mitverantwortlich für die Einrichtung von Truman, Eisenhower, Kennedy, Johnson, Nixon, Ford, Carter, Reagan und Clinton, alle seien easy gewesen, nur die Kennedys nicht, First Lady Jackie habe es zu bunt getrieben mit ihrer Liebe für französisches Design. Ein Vorwurf, den man sich aus dem Mund von Iris Apple kaum vorstellen kann. Möglicherweise hatte es damit zu tun, dass Jackie Kennedy gerne Chanel trug.
Iris Apple kam 1921 als Iris Barrell im New Yorker Bezirk Queens (damals noch sehr ländlich) auf einem Bauernhof zur Welt. Ihre Eltern waren beide berufstätig, der Vater führte ein Glas- und Spiegel-Geschäft, die Mutter eine Modeboutique, Geld war kaum vorhanden, Iris verbrachte ihre Jugend im Schatten der Wirtschaftskrise, ihre Anziehsachen suchte sie schon früh in den Second-Hand-Läden von Manhattan, schon als Zehnjährige verhandelte sie gnadenlos mit den Verkäufern, zudem konnten alle in ihrer Familie nähen, malen und Dinge zusammenkleben.
Es war ein Frühkurs in Nachhaltigkeit, die ihr bis zuletzt wichtig war, sie kaufte, was ihr gefiel, vintage, auf dem Markt, von der Stange oder vom Designer – «Ich habe den schwarzen Gürtel im Shoppen», sagte sie einmal – und wenn sich etwas als Fehlkauf herausstellte, wurde der Stoff zu Kissenbezügen und anderen Dekorartikeln umgearbeitet. Vieles behielt sie über Jahrzehnte, ihre Hochzeitsschuhe hat sie für den Rest ihres Lebens gehütet und getragen. Ihr Hochzeitskleid war übrigens nicht weiss, sondern pink, sie wollte es später wieder tragen können.
Auch Carl wurde alt, er war 100, als er 2015 starb, 67 Jahre lang waren die beiden miteinander glücklich gewesen, 1992 gingen sie in einen einigermassen bewegten Ruhestand. Natürlich waren sie miteinander auch reich geworden, sie besassen eine Wohnung an der Park Avenue in New York. Carl nannte Iris noch mit 100 «meine Kindbraut», Iris nannte Carl «meine kleine Miezekatze». Sie beschrieb ihre Faszination für ihn im Jahr 1948 so: «Ich dachte mir, er ist cool, er ist knuddelig und er kocht Chinesisch, etwas Besseres konnte mir nicht passieren.»
Sie hatte Kunst studiert, sie hatte bei einem Modemagazin gearbeitet, sie hatte mit Carl die Welt bereist und unzählige Wohnungen, Häuser und Villen dekoriert – sie hatte dabei das perfekte Auge gehabt und er hatte immer eine Werkzeugkiste bei sich getragen, damit er die Bilder ihrer Kunden auch dort aufhängen konnte, wo Iris das wollte.
Und dann wurde alles noch einmal ganz anders. 2005 fiel im Metropolitan Museum in New York eine Kostümausstellung aus. Der Kurator bat Iris Apfel, dafür doch bitte einen Bruchteil ihrer Garderobe und ihres Schmucks aus mehreren Jahrzehnten ausstellen zu dürfen. Sie willigte ein, und die Ausstellung und die Frau dahinter wurden zum Hit. Und dies nicht (nur) bei älteren Menschen, sondern besonders bei jungen.
Es war die Zeit, in der Modeblogs und Street Photography gross wurden und als Originalität plötzlich genauso wichtig wurde wie massgedrechselte Schönheit. Und es gab keine originellere Modeikone als Iris Apfel, die Frau, die sich ein Leben lang kein bisschen hübsch gefunden, aber nicht darunter gelitten hatte: Stil übertrumpfte Hübschheit, das war ihr Credo und sie hatte Recht damit.
Iris Apfel machte sich selbst zur Meta-Modeschau, denn sie zog sich nicht einfach an, ihre Outfits waren vielschichtige Skulpturen aus Federn, Fell, Tüll, Mustern und viel, viel Schmuck, kiloweise Ketten und Armreifen – und über allem ihre grosse schwarze Brille und das kurze weisse Haar, beide fanden sich auch in der nach ihr gestalteten Barbiepuppe wieder.
Bei alledem war ihr der Prozess das Liebste, nicht das Resultat, das Auswählen und Zusammenstellen von modischen Möglichkeiten und Unmöglichkeiten, die zigfache Grenzüberschreitung, der Freestyle eines Freigeists, sie nannte dies ihre Art, Jazz zu spielen.
Mit dem Wachsen der sozialen Medien wuchs auch die weltweite Präsenz der Iris Apfel, sie war ungemein instagrammable und hatte Spass daran, die Plattformen boten ihr noch mehr Gelegenheit für Fashion-Experimente und Foto-Shootings, sie war da ganz in ihrem Paradies, und das Publikum liebte sie dafür.
2019 nahm sie die bedeutende Modelagentur IMG unter Vertrag. Ältere Frauen galten da als immer beliebtere «neue» Gesichter für Kampagnen und auf den Laufstegen, Helen Mirren, Andy McDowell, Marianne Faithful oder Jane Fonda feierten ihr Alter in aller Unbekümmertheit, das war erfrischend, gerade auch für jüngere Frauen, es gab ein Leben jenseits der 50, 60 und 70 – mit Iris Apfel sogar jenseits der 90.
Ihr zuzuschauen, war ein Fest. Und wenn es jemals eine gegeben hat, die Lust machte auf Mode und noch mehr Mode und auf exorbitant verspielte Individualität, wenn also jemand Mut machte auf Mode, dann sie.
Dankeschön.