Angenommen, Adam Driver sässe plötzlich und nur minimal unrealistischerweise auf einer unserer sprichwörtlichen Bettkanten – wer würde es übers Herz bringen, ihn von da zu vertreiben? Na? Ganz ehrlich? Und wann wird er endlich zum Sexiest Man Alive gekürt? Wieso wurde ihm – er soll ja bei der heurigen Auswahl weit vorne mit dabei gewesen sein – ein 0815-Modell wie Paul Rudd vorgezogen? Wieso einen Audi wählen, wenn man einen Aston Martin haben könnte? Das sind so Fragen, die wir dringend mal besprechen müssten.
Aber gut, ich bin auch etwas durch den Wind. Ich habe fast zweieinhalb Stunden lang «Annette» von Leos Carax geschaut, und seither etwa 37 Mal «We Love Each Other So Much» gehört. Jetzt weiss ich gerade nicht mehr, was ich von den letzten Stunden halten soll. Waren sie entsetzlich? Waren sie göttlich? Oder waren sie einfach mal wieder ... französisch?
Auf jeden Fall hat Marion Cotillard Adam Driver in «Annette» nicht von der Bettkante gestossen. Auch nicht, als er zwischen ihren Beinen gesungen hat. Wahrscheinlich sollte man sich diese Szene ohne Ton anschauen, denn aussehen tut sie sehr gut, schliesslich ist auch Marion Cotillard ein Vorzugsmodell in Gottes Schöpfung. Die beiden lieben sich unfassbar fest. Weshalb sie das immerzu besingen müssen. Das ist sogar irgendwie herzzerreissend, besonders, wenn sie «We Love Each Other so Much» singen.
Die beiden spielen Bühnenmenschen. Sie ist Opernsängerin und stirbt jeden Abend einen andern Tod, weil in der Oper ja die meisten Heldinnen sterben. Carmen, die Kameliendame, Tosca, Turandot, Isolde, Desdemona etcetera, alle immer tot. Er ist Comedien mit für uns komplett unwitzigen Witzen, aber einer halben Russell-Brand-Haartracht – die Leute im Film bringt er trotzdem zum Lachen. Das ist super, weil er auch seine Frau zum Lachen bringt, als sie in den Wehen liegt, was beim Gebärvorgang offenbar hilft. Und so kommt ihre hässliche Tochter Annette unter Gelächter zur Welt.
Nein, das ist jetzt kein Bodyshaming. Annette ist nämlich kein Baby, sondern eine extrem unansehnliche Babypuppe, aber alle tun so, als wäre sie normal. Denn, ha!, wir sind in einem Metakunstfilm! Einer, der von der ersten Minute weg die sogenannte vierte Wand zwischen uns und der Fiktion durchstösst und uns immerzu sagt, dass Kunst von Künstlich kommt, und dass das Verrückte dabei ist, wie glaubhaft das dann doch irgendwann wird. Im Film. In der Oper. Als ob wir das nicht wüssten.
Was wir auch wissen: Wenn Adam Driver ab Minute eins guckt wie ein Pferd vor dem Todesschuss, dann wird er irgendwann durchdrehen. Zumal seine Frau viel erfolgreicher ist als er. Was wir ja aus «A Star Is Born» tiptop kennen, da brachte sich Bradley Cooper schliesslich in der Garage um weil Lady Gaga viel besser singen konnte als er. Jetzt ist es ähnlich, aber anders. Jetzt herrscht noch mehr Pathos als bei Gaga und Cooper. Und alles hängt immer zusammen! Liebe ist, wenn er eine Banane und sie gleichzeitig, aber woanders, einen Apfel isst!
Denn jetzt sind wir in einem Film von einem total französischen Regisseur. Einem der französischsten Franzosen überhaupt. Leos Carax. Seine kaputte Pariser Elendsromanze «Les Amants du Pont-Neuf» gehörte in meinen sehr jungen Jahren zu meinen absoluten Lieblingsfilmen. Das war so romantisch und überdreht. Das haute einem die Gefühle mit dreckigen Fäusten ins Gesicht.
Jetzt hat Carax zusammen mit der amerikanischen Band Sparks den bombastischen Musicalfilm «Annette» gemacht. Oder eine «Rock Opera», das klingt besser. Über ein paar schöne Künste der Nacht. Oper, Comedy, Sex eben. Weshalb es in «Annette» auch immer Nacht sein muss. Wie in Adam Drivers Seele.
Carax hat sieben Jahre lang an «Annette» gearbeitet. Und Driver zu einem Zeitpunkt engagiert, als der gerade Lena Dunhams Love Interest in «Girls» spielte. Marion Cotillard war damals die Berühmtere, und wir wussten auch alle, dass sie singen kann, schliesslich hatte sie es als Edith Piaf in «Piaf» bewiesen. Und dafür einen Oscar gewonnen. Aber Adam Driver kann auch singen. Und Simon Helberg (Howard aus der «Big Bang Theory») kann als Cotillards Pianist richtig Klavier spielen. Nur Cotillards Opernarien werden von einer Opernsängerin passagenweise ergänzt.
«Annette» ist auch romantisch. Auch hier macht die Liebe viel Mist und hebelt jede Logik aus wie in «Les Amants du Pont-Neuf». Nur dass das Milieu jetzt ein ganz anderes ist. Driver und Cotillard leben nicht auf der Strasse, sie residieren in einer wunderbaren Villa mitten in einem Paradieswald und besitzen eine Yacht, sind erwachsen und sollten tendeziell vernunftbegabte Wesen sein.
Doch am Ende geht es darum, dass die beiden Liebenden – wie so viele Leute – nie ein Kind hätten machen dürfen, weil dieses bloss ein Gefäss für die Manifestation ihrer Liebe ist. Oder ihres Hasses. Das Kind wird in einem Horror-Twist in der Mitte des Films zur Revenge-Marionette und zum singenden Spektralgespenst. Die letzte Bühne ist ein Gerichtssaal. Annette schwört, dass sie ihr Leben für immer in der Dunkelheit verbingen wolle, «für immer ein Vampir». Und das ist himmeltraurig.
«Annette» hat heuer in Cannes den Regiepreis gewonnen – pourquoi pas? Das ist ein etwas überambitioniertes, verrücktes, dunkel leuchtendes, seltsames Ding mit zwei wahrhaft magischen Menschen in den Hauptrollen. Stellenweise total berührend, musikalisch toll, gelegentlich der letzte Schwachsinn. Mich hat es ebenso verzaubert wie ratlos zurückgelassen, etwas verwirrt und leicht fertig eben. Es ist ein Film so überbordend wie ein fünffach gebuttertes, gestopftes, getrüffeltes französisches Gericht. Er verlangt Auslieferung.
«Annette» läuft ab dem 30. Dezember im Kino.