Er tötet 16 Frauen, dann wird er verhaftet. Weitere 80 hatte er im Visier. Seine Opfer sind Prostituierte, arm, die meisten von ihnen Junkies. Für ihn sind sie keine Menschen. In einem langen Interview, das er vor seiner Hinrichtung gibt, erzählt er, dass er mehr Mühe hätte, ein Huhn zu töten als eine Prostituierte. Sein Sohn – er ist noch ein Kind – sagt, dass die Strassen genauso von Prostituierten gereinigt werden müssen wie ein Haus von Kakerlaken.
Der Mann heisst Saeed Hanaei und ist der berühmteste Serienmörder des Irans. Zwischen Juli 2000 und Juli 2001 ist der Bauarbeiter und Kriegsveteran in der heiligen Stadt Maschad als Killer unterwegs, er gibt sich als Freier aus, lockt die Frauen in leere Gebäude oder seine eigene Wohnung und erwürgt sie. Dann legt er die Leichen irgendwo ab. Man nennt ihn «die Spinne», weil er seine Opfer so gezielt in eine Falle lockt wie ein Achtbeiner. Nach seinem zehnten Opfer geht zufälligerweise die Dürrezeit zu Ende. Hanaei versteht den einsetzenden Regen als Zuspruch von Gott.
2004 erscheint der Dokumentarfilm «And Along Came a Spider» des persisch-kanadischen Filmemachers und «Newsweek»-Reporters Maziar Bahari. Er führte das Interview mit Hananei, bevor dieser erhängt wurde. Er spricht mit Eltern und Kindern der Opfer und mit Prostituierten selbst. Zeigt die fatalen Folgen von religiösem Fanatismus, Frauenhass und mangelnder Bildung.
Bahari redet mit einer 18-Jährigen, die von ihrem Vater brutal misshandelt wurde, der ihr Arme und Beine brach, und die als Teenager von ihrem drogensüchtigen Gatten auf die Strasse geschickt wurde. Von der Polizei wurde sie wiederholt verhaftet und einmal zu 180 und dann zu 300 Peitschenhieben verurteilt. Beim ersten Mal habe es weh getan, sagt sie, beim zweiten Mal nicht mehr, da sei ihre Haut vor lauter Narben schon ganz dick gewesen. Sie ist sich sicher, dass sie bei ihrer nächsten Verhaftung exekutiert wird. Es ist ihr egal. Ihr Leben ist schon lange vorbei.
5000 Prostituierte kamen damals in Maschad auf 3 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner, fünf Minuten dauerte die längste Wartezeit einer Frau auf einen Freier, so gross war die Nachfrage. Das Geschäft mit dem im Islam streng Verbotenen war lebensgefährlich, aber eine garantierte Einkommensquelle.
Ein Vater gesteht Bahari, dass er seine Tochter mit zehn verheiratet und zugeschaut habe, wie sie mit zwanzig und als sechsfache Mutter auf die Strasse ging, weil ihr Mann sein Geld für eine neue Frau brauchte. Auf der Strasse wurde sie zum Opfer der Spinne.
Die Kinder einer anderen Ermordeten ernähren und erziehen sich gegenseitig, es ist herzzerreissend, ihnen zuzuhören. Für Tausende ist Hanaei ein Märtyrer, der das gesellschaftlich Richtige wollte und tat. Gegen seine Verurteilung erheben sich Volksproteste. «And Along Came a Spider» gibt es auf YouToube zu sehen. Danach möchte man nur noch weinen und erbrechen.
Als Hanaei 2000 mit Morden begann, war der Teheraner Ali Abbasi 19 Jahre alt und Hanaei grundierte den Anfang seiner Studentenzeit mit Schrecken. 2002 wanderte Abbasi nach Dänemark aus. Und deshalb gilt «Holy Spider», Abbasis Spielfilm über die Spinne, der jetzt auf der Oscar-Shortlist für den besten fremdsprachigen Film steht und in Cannes den Preis für die beste Schauspielerin gewonnen hat, als dänischer Film.
Erneut folgen wir dem «Dschihad gegen die Sittenlosigkeit», wie Saeed (er heisst jetzt nicht Hanaei, sondern Azimi) dies nennt. Jetzt ist die Geschichte fiktionalisiert und in einen Thriller verpackt, dessen Unheimlichkeit nicht nur in den Verbrechen selbst liegt. Abbasi hat als Filmemacher viel von Dänemark gelernt, vom gnadenlosen kriminalistischen Naturalismus dänischer Serien etwa, mit deren filmischen Mitteln er gekonnt spielt.
Maschad, dessen nächtliche Strassen selbst wie ein glitzerndes Spinnennetz die Landschaft überziehen, ist in düsteren, aber satten Farben des Nordic Noir gemalt. Man wartet nur darauf, dass da eine hartgesottene, eigensinnige Ermittlerin wie Saga Noren oder Sarah Lund auftaucht, und da ist sie auch schon in Gestalt der jungen, zähen Investigativ-Journalistin Rahimi (Zar Amir-Ebrahimi), für die keine Schlagzeile zu scharf sein kann.
Rahimi ist die Figur, die uns an die Hand nimmt und hineinzieht in die schaurige Vergangenheit von Maschad. Sie ist eine moderne Frau in einer Welt von vorvorgestern. Dauernd verrutscht ihr das Kopftuch, das sie noch nie tragen wollte, aber muss. Einzig in der Sicherheit ihres Hotelzimmers darf sie sich verwandeln, darf ihr Haar befreien und Jeans und T-Shirt tragen, aber auch nur, wenn sie allein ist. In ihr künden sich die künftigen Proteste an, genau so, wie die Spinne ein Vorläufer der Sittenpolizei ist.
Die Spinne selbst hat ein inniges Verhältnis zu den Medien, nach jedem Mord meldet sie sich bei einer bestimmten Zeitung und verrät den Fundort der neusten Leiche, und nichts liebt sie mehr als die mediale Spiegelung ihrer Taten. Die Darstellung der Morde selbst ist drastisch. Die Differenz zwischen Familienalltag und blutigem Feldzug ist grauenvoll, und wo sich Überschneidungen ergeben, wird es unerträglich spannend. Ehesex in Gegenwart einer Leiche ist ebenso prekär wie pervers.
Am monströsesten ist jedoch das Aufbranden der Solidarität mit Saeed, die selbstgerechte Bigotterie, die Frauen, Männer, Kinder, aber auch weite Teile der Behörden angesichts der Toten ergreift. Und Saeeds unerschütterliche Überzeugung, dass er richtig gehandelt habe. Er versteht sich als Partner der Polizei, und so ganz vermag dieser Verdacht nie aus der Welt geschafft zu werden.
«Holy Spider» ist ein perfekter Thriller, True Crime noch dazu, aber vor allem ist es ein erschütternder Film, der uns in seinen feineren Details sehr viel über ein Land und seine Frauen lehrt. Über ihre Geschichte, ihr Elend, ihren Mut und über ihre tausend guten Gründe, heute im Andenken an Mahsa Amini und all die früheren und späteren Toten um ihr Recht und ihr Land zu kämpfen.
«Holy Spider» läuft ab dem 12. Januar im Kino.
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Yue
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