Natürlich hat Shakespeare noch mehr. Nämlich Verfilmungen. 1864 Mal wurden seine Stücke bisher verfilmt, 46 weitere Verfilmungen sind zusätzlich in Produktion, unzählige weitere werden noch hinzukommen. Doch Shakespeare ist tot. Stephen King lebt. Und ist von allen lebenden Autorinnen und Autoren derjenige, dessen Romane und Erzählungen am häufigsten zu Filmen oder Serien gemacht wurden. 397 sind bis zum heutigen Tag abgeschlossen, 24 noch in Bearbeitung, hier widmen wir uns der magischen Nummer 391.
Sie ist nicht perfekt, die 391, man darf sich dem Stoff nicht allzu analytisch nähern, doch es ist so viel Schönes drin, dass einem der Film nachhaltig nahegeht. Und dass er dafür am Filmfestival von Toronto den grossen Publikumspreis gewonnen hat. Wieso? Weil man ihn mit einem unerklärlichen Glücksgefühl verlässt. Das gilt auch für seine Vorlage, die nur wenige Dutzend Seiten dicke Erzählung «The Life of Chuck» aus dem 2020 erschienenen Band «If It Bleeds». Eine rätselhafte und seltsam tröstliche Geschichte – obwohl sie vom Weltuntergang handelt.
Die Welt, sagt Stephen King, enthält nicht nur uns, nein, in allen von uns lebt auch eine ganze Welt. Oder, um es mit der berühmtesten Zeile des amerikanischen Dichters Walt Whitman zu sagen: «I am large, I contain multitudes.» Ich bin gross, ich enthalte Vielheiten. Ich bin gross, ich bin Viele(s).
Kings Geschichte basiert und balanciert auf Whitmans Zitat, und dabei ist sein Chuck Krantz (Tom Hiddleston) gar kein im üblichen Sinne grosser Mann, sondern ein ganz normaler Familienvater aus irgendeiner amerikanischen Vorstadt und erst noch Buchhalter von Beruf wie einst sein Grossvater (Mark Hamill). Doch Chuck hat eine Fähigkeit: Er ist offen für alle und alles, er geniert sich vor nichts, wenn er irgendwo eine kleine Möglichkeit zur Freude sieht, packt er sie – und das ist ansteckend.
Als er eines Tages eine junge Schlagzeugerin auf der Strasse trifft, beginnt er zu tanzen, ganz einfach, weil ihm dies Freude bereitet, weil er das schon in der Schule gerne getan hat, weil ihm dies seine Oma als Kind beibrachte und weil er Filme mit Fred Astaire so schön findet.
Chuck ist eine gegenwärtige und eine alte Seele, ein grosszügiger, vorurteilsfreier Mensch, dessen Gesicht kurz vor dem Weltuntergang auf allen Werbeflächen und auf allen Bildschirmen erscheint, dazu der Text: «39 Great Years! Thanks Chuck!» Ein Mensch steht stellvertretend für alle und das Viele, das sie enthalten.
«The Life of Chuck» erzählt die Apokalypse aus Sicht einer Kleinstadt, alles scheint dort leicht stehen geblieben. Die Atmosphäre, die Musik, die Leidenschaften der Leute atmen Nostalgie und Rückwärtsgewandtheit, und darüber gibt es eine Erzählerstimme (von Nick Offerman), die selbst etwas entrückt klingt, und alles ist, als würden wir Chucks Welt von einem fernen Planeten aus betrachten. Etwas Magie gehört beim modernen Märchenerzähler King natürlich auch noch dazu, mehr sei hier nicht verraten.
Regisseur Mike Flanagan ist aktuell der Mann, dem King vertraut, er hat 2019 bereits «Doctor Sleep» verfilmt und wird demnächst «Carrie» serialisieren. Und Flanagan ist mit einem King'schen Gespür für Horror aufgewachsen, er stammt ausgerechnet aus Salem, Massachusetts, jenem Provinzstädtchen, wo im 17. Jahrhundert die spektakulärsten Hexenprozesse der Neuzeit stattfanden. Jede Ecke von Salem ist dem historisch verbrämten Horror-Tourismus gewidmet.
Nun hat Flanagan Kings Text über weite Strecken wortgetreu adaptiert, doch hie und da hat ihn der Mut verlassen, da musste er die Rätselhaftigkeit von King unbedingt reduzieren, was natürlich schade ist. Was andererseits aber auch nicht erstaunt bei Flanagan. Netflix ist bekanntlich voll mit seinen Filmen und Serien, «The Fall of the House of Usher», «The Haunting of Bly Manor», «The Haunting of Hill House», «Midnight» und so weiter, das sind äusserst routinierte, teure, flashy Horror-Produktionen, die ganz unzimperlich auf Effekte setzen. Bei «The Life of Chuck» ist er ungewöhnlich zurückhaltend, der Film wirkt wie vergilbtes Leinen gegen den neonfarbenen Polyester-Groove seiner Netflix-Produkte.
«The Life of Chuck» gehört weder zu den schlechtesten (viel zu viele) noch zu den besten (u. a. «Carrie», «The Shining», «Misery», «It» eins und zwei) Stephen-King-Verfilmungen. Doch wie der Film nachglüht, ist aussergewöhnlich. Denn «The Life of Chuck» ist eine innige Liebeserklärung von Stephen King an das Leben, die Liebe, die Lebensfreude, die Musik und die Wissenschaft – im Moment ihres Verglühens. Und es ist ein Vorschlag dafür, wie man dem Ende gefasst entgegentreten kann. Ohne Panik, dafür mit viel Dankbarkeit für alles, was war. Ein tröstlicher Vorschlag.
«The Life of Chuck» läuft ab dem 31. Juli im Kino.