Richard Gadd verkörpert in der Netflix-Serie «Baby Reindeer» die Rolle von Donny Don, eine fiktive Version seiner selbst. Über Jahre wurde der schottische Komiker von einer Frau gestalkt, die in der Serie Martha Scott genannt wird.
Mehr als 41'000 grammatisch inkorrekte E-Mails sowie 350 Stunden an Voice-Nachrichten soll sie ihm während drei Jahren geschickt haben.
Genauso wirr wie diese Nachrichten beginnt auch die Geschichte zwischen Donny und seiner Stalkerin Martha.
Martha (Jessica Gunning) betritt weinend eine Londoner Bar. Barkeeper Donny offeriert ihr einen Tee. Martha wischt sich die Tränen weg, behauptet, eine mächtige Anwältin zu sein, sagt aber auch, dass sie sich keine Tasse Tee leisten könne.
Fortan drängt Martha sich immer mehr in Donnys Leben. Sie besucht ihn jeden Tag in der Bar, erzählt wirre Dinge aus ihrem Leben. Sie findet Donnys E-Mail-Adresse im Netz und textet ihn mit noch wirreren Nachrichten zu.
Zunächst geniesst Donny die Aufmerksamkeit, fühlt sich geschmeichelt. Erst vor einigen Monaten ist er verlassen worden. Doch als Martha ihm nach Hause folgt, jeden einzelnen Facebook-Beitrag von ihm kommentiert und seine Ex-Freundin online belästigt, wird es Donny zu viel. Es dauert nicht lange, bis er herausfindet, dass dahinter der schmeichelnden Frau ein «Profi» steckt: eine verurteilte Stalkerin.
Donny versucht, Martha loszuwerden, aber Martha ist besessen von Donny, den sie «Rentierbaby» nennt. Aus der einseitigen Liebe wird ein Wahn. Je mehr sich Donny von Martha distanziert, desto stärker wird er terrorisiert. Das Stalking reicht von E-Mails im Sekundentakt bis zur sexuellen Belästigung.
Trotzdem will Donny Martha nicht anzeigen. Selbst als Martha seine neue Freundin Teri (Nava Mau) körperlich angreift, will Donny das Problem selbst klären.
Hat er Mitleid? Schämt er sich? Oder hat er Angst, dass Martha aus seinem Leben verschwindet?
Bevor diese Frage beantwortet wird, blickt die Serie weiter zurück. Als Donny nach London kam, um Komiker zu werden, und er den älteren Fernsehautor Darrien (Tom Goodman-Hill) kennenlernt, der ihn berühmt machen will. Doch anstatt ihm Comedy-Türen zu öffnen, setzt Darrien ihn unter Drogen, belästigt und vergewaltigt ihn.
Donny stürzt in eine tiefe Identitätskrise, stellt seine Sexualität infrage. Gefangen im Gefängnis des Selbsthasses und der Selbstbestrafung schätzt er die Aufmerksamkeit jener Frau, die per Zufall in sein Leben tritt und die ihn als eine bessere Version seiner selbst sieht. «Martha brachte Licht in das Dunkeln meiner Unsicherheit. Sie sah mich so, wie ich es wollte», sagt Donny.
«Baby Reindeer» erweist sich als ganz anders, als die ersten Folgen vermuten lassen. Richard Gadd gewährt einen schonungslos ehrlichen Einblick in seine Gefühlswelt und die schmerzhaftesten Phasen seines Lebens.
In der Serie wird erkennbar, dass Donny seine Stalkerin zwar stark ablehnt, ihre Besessenheit ihn aber dennoch anzieht. Obwohl er sich in eine trans Frau verliebte, dachte er beim Masturbieren an Martha. Selbst beim Sex mit seiner neuen Freundin ist es Martha, die ihn in seiner Fantasie zum Orgasmus bringt.
«Baby Reindeer» macht das, was in anderen Serien über Belästigung und Missbrauch oftmals vergessen geht: Sie thematisiert Traumata. Auf eindrückliche und differenzierte Weise zeigt Gadd, welche gravierenden Folgen unverarbeitete Traumata haben können und warum Opfer oftmals schweigen.
Gadd gelingt es, die Komplexität der Ereignisse verständlich abzubilden. Er ist selbstkritisch, gibt sich sogar eine gewisse Mitschuld dafür, dass er Martha falsche Signale gesendet hat. «Ich habe mich oft gefragt, ob ich es verdient habe. Wo hörte mein Fehlverhalten auf und wo begann ihres? Ich habe die Situation auf jeden Fall angeheizt, bevor mir klar wurde, dass sie so gefährlich ist», wird Gadd später sagen.
Ohne die Geschehnisse zu verharmlosen, schafft er es, die Botschaft zu vermitteln: Genauso wie er, ist seine Stalkerin von einer psychischen Krankheit betroffen.
«Ich kann gar nicht genug betonen, wie sehr Martha in all dem ein Opfer ist», sagte Gadd gegenüber «The Independent».
Ob er sich nicht zu viele Vorwürfe mache, will die Zeitung von ihm wissen. Gadd sagt: «Vorsicht ist besser als Nachsicht.» Und weiter: «Es wäre falsch gewesen, meine Stalkerin als Monster darzustellen. Stalking und Belästigung sind eine Form der psychischen Erkrankung», so Gadd. Seiner Stalkerin gehe es nicht gut, und das System habe sie im Stich gelassen.
Namen und identifizierende Details seien in der Serie geändert worden. Gadd spielt die Hauptrolle, aber sein Charakter heisst Donny. Die Chronologie und einige Ereignisse seien «leicht angepasst» worden, um dramatische Höhepunkte zu schaffen, verrät der Komiker und Schauspieler gegenüber der Zeitung «The Irish Times».
«Ich wurde schwer gestalkt und schwer misshandelt», sagt Gadd. Er habe aber die Menschen, die in der Serie vorkommen, schützen wollen – insbesondere seine Stalkerin.
Was mit der echten Martha passiert ist, weiss man nicht. In der Serie wird sie zu einer neunmonatigen Gefängnisstrafe und einer fünfjährigen einstweiligen Verfügung verurteilt. Nach dem Urteil habe Gadd sie nie mehr gehört oder gesehen. Ob die Informationen mit der wahren Geschichte übereinstimmen, bestätigt Gadd nicht. Er bekräftigt hingegen, dass er die in der Serie eingeblendeten E-Mails so bekommen habe – inklusive Tippfehler.
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