Ich erinnere mich noch genau an ein Erlebnis vor ca. 25 Jahren. Per Zufall zappte ich in den Film «Fallen Angels» von Wong Kar-Wai hinein. Jesus Maria – es war wie ein Erwachen: Die Kameraführung, die Einstellungen, die Regie, die SchauspielerInnen, die Story … alles neu, alles anders, alles fremd.
Und trotzdem schien ich es zu verstehen.
Innerhalb weniger Minuten wusste ich, dass dieser Film für mich neue Standards setzen würde.
Leider erwies sich Wong Kar-Wais Messlatte als enorm hoch. So hoch, dass sie jahrelang unerreicht blieb.
Auch der deutsche Hip-Hop bescherte mir 2000 ein ähnliches Hallo-Wach-Ereignis – vor demselben Fernseher. Verantwortlich war «King of Rap» von Kool Savas. Drei Minuten lang brachte ich den Mund nicht mehr zu: alles neu, alles anders, alles fremd. Und trotzdem schien ich es zu verstehen.
Wie heute die Politik plapperte Deutschrap damals am Publikum «Mann der Strasse» vorbei. «King of Rap» war die Zeitenwende. Ab jetzt wurde derbe geflucht, beleidigt und gebattelt. Damit wurden immer noch grössere Stadien gefüllt. Deutscher Ghettorap traf einen Nerv.
Nur nicht meinen. Für mich wiederholte sich die Wong-Kar-Wei-Story.
Savas hatte die Messlatte zu hoch gelegt. Was nachher kam, war in meinen Augen vor allem Gülle. Und ich musste feststellen, dass ich mit zunehmendem Alter auch nicht offener wurde für Bushido, Gzus, Haftbefehl und Konsorten. Deutschrap und ich legten eine Beziehungspause ein.
Bis vor wenigen Tagen.
Den alten Fernseher gibt es nicht mehr. Neue Musik entdecke ich heute über andere Kanäle. Die Mund-offen-Momente sind selten geblieben – doch kürzlich hatte ich wieder einen.
Er ging keine drei Minuten. Die Clips auf Insta dauern nur noch ein paar Sekunden. Aber was ich von «Get Da Fuck Up» von MP Freshly und Die P gehört hatte, sog ich auf, wie ein ausgetrockneter Schwamm.
Alles anders, alles neu, alles fremd?
So einfach ist es dann doch nicht.
Neu ist bei Die P eigentlich nur das Album. Das heisst «Bring Da P Vol. 2» und erschien Ende November.
Die Beats hingegen sind alt – oldschool. Der von «Get Da Fuck Up» beispielsweise stammt vom 1999er-US-Hit «Simon Says». Und das ist dann auch die Stossrichtung der acht Songs auf «Bring Da P Vol. 2»: Harter, schneller Kopfnickersound. Eine Anspielung an die gute alte Hip-Hop-Zeit folgt der nächsten, und zwar mit so viel Druck, Überzeugung und Flow, wie ich das so aus Deutschland noch nie gehört habe. Die P hat im abgenudelten Deutschrapgetriebe einen längst vergessenen Extragang gefunden – und den Nachbrenner dazu. Das ist nicht einfach nur ein Level besser. Das sind Welten.
Auch thematisch erfindet Die P Hip-Hop nicht neu. Im Gegenteil. Auch da geht sie zurück zu den Wurzeln: «Ich bin gekommen, um Hip-Hop zu retten», lässt sich ihre Message zusammenfassen. Und ich gebe ihr recht. Sie hat mich am Haken – trotz Monothematik. Aber die szenenübliche Beweihräucherung mit Storys über Geld, Luxus und Drogen wurde in den vergangenen Jahren auch nicht frischer. Frisch hingegen ist, sich diesem Pflichtprogramm zu verwehren.
Und was ist mit «Alles fremd – und doch scheine ich es zu verstehen»?
Beim fremd kann ich punkten. Ich bin fast 47 Jahre alt, Vater zweier schulpflichtiger Kinder, lebe in Oerlikon und jeden Samstag fahre ich für die Wochenendeinkäufe mit dem Lastenfahrrad in den Supermarkt. Meine Lebenswelt könnte nicht weiter weg vom «echten» Hip-Hop von Die P sein.
Patricia Pembele, so heisst Die P mit bürgerlichem Namen, ist zehn Jahre jünger als ich, geboren in München, gross geworden in Bonn. Sie hat sich durch die lokale Szene gebattelt und 2017 eine erste LP veröffentlicht. Ich weiss nicht, wie es ist, als afro-deutsche Frau aufzuwachsen.
Und doch rappt sie mir aus dem Herzen. Ihre Wut aufs Gekünstelte, auf den Schein, der das Sein längst totprügelte, trage auch ich in mir. Den Mangel an Authentizität, den fast schon abschätzigen Umgang damit, der ärgert auch mich. Vielleicht in anderen Bereichen – aber täglich grüsst das Murmeltier: in den sogenannten Sozialen Medien, der Politik, in der Gesellschaft.
Ja, vieles an Die P ist mir fremd. Und das ist gut so und Teil des Reizes.
Aber ich weiss auch, dass ich sie haargenau verstehe.
«Bring Da P Vol. 2» von Die P gibt es auf Spotify (und ich nehme mal an, auch im Fachhandel). Aktuell hat Die P 91’420 Hörer pro Monat. Das sind fast 50 Mal weniger als Bonez MC.
«Fallen Angels» von Wong Kar-Wai kannst du dir für ein paar Franken ausleihen bei Google oder Amazon. Bei Mubi gibt es den Film in der Flatrate.
Ich weiss, eine «Albumkritik» eines fast 50-Jährigen Schweizer Familienvaters ist vermutlich nicht das Beste für die street credibility einer Rapperin – und wohl auch nicht förderlich für die Karriere. Dafür möchte ich mich entschuldigen. Für den Rest nicht.
Die letzten Jahre im Deutschrap bestanden nicht nur aus GZUZ, Haftbefehl, Bonez oder den lila Sprite trinkenden Autotune-Kids, die wie Unkraut aus dem Boden schiessen. Das kam Dir nur so vor, weil Sch***** bekanntlich oben schwimmt. 😉