«Manisch. Es kann gar nicht genügend Mädchen für mich geben, nicht genügend Gin, nicht genügend Stunden am Tag, die ich verschwenden könnte. Nach einer Phase annähernder Impotenz will ich jetzt zehnmal am Tag Sex. Und es ist erstaunlich, wie die Mädchen kommen!» Patricia Highsmith ist 37, als sie dies schreibt, der Eintrag ist vom 15.2.1959, tausende ähnliche finden sich in ihren Tage- und Notizbüchern, es ist ein Zufallsfund, aber typisch für das erfolgs- und triebgesteuerte Leben der Schriftstellerin. Dabei begann alles ganz anders. Provinziell. Heterosexuell. Und ablehnend.
Ihre Mutter, eine Grafikerin, schluckt während der Schwangerschaft Terpentin und versucht so, ihre Tochter abzutreiben. Die Eltern trennen sich kurz vor Patricias Geburt, die Mutter zieht mit ihrem neuen Mann nach New York und lässt Patricia im Boarding House der Grossmutter in Fort Worth, Texas, zurück. Das Mädchen orientiert sich an ihrem Lieblingscousin Dan, der später Rodeo-Sprecher wird, und am Stummfilmkinderstar Jackie Coogan, dem Bub mit Dächlikappe an der Seite von Charlie Chaplin in «The Kid».
Es sind glückliche Jahre für Patricia. Als sie sechs ist, holt die Mutter sie nach New York. Als sie sechzehn ist, versucht die Mutter, sie mit einem Jungen zu verkuppeln. Doch ihn zu küssen ist für die junge Patricia so eklig, «als würde ich in einen Kübel mit Austern fallen».
Die erzkonservative Südstaatengrundierung, die sie von der Grossmutter mitnimmt, wird bei ihr erst später durchschlagen. Als sie alt, verbittert und weltabgewandt im Tessin lebt, eine heimliche Antisemitin und Rassistin ist und sich ihre Verliebtheitsschübe in sehr viel jüngere Frauen lesen wie die peinlichen Bekenntnisse eines alten Mannes. Patricia Highsmith altert nicht gut, und auch ihre letzten Bücher bleiben weit hinter ihren Fähigkeiten zurück. Doch davor liegt eine überwältigende Zeit. Ein Leben für die Literatur und die Liebe. Sonst nichts.
Genau davon handelt nun der unerwartet heitere und einnehmende Dokumentarfilm «Loving Highsmith» der Zürcher Regisseurin Eva Vitija. Sie begann ihre Arbeit 2016 in Texas, besuchte die Verwandten von Highsmith, «stramme Trump-Anhänger, doch unter gewissen Vorbehalten sehr tolerant». Sie drückten Vitija eine Kiste mit Material in die Hand, darunter viele Fotos aus der Kinderzeit, danach zog sich die Regisseurin ein halbes Jahr lang ins Schweizerische Literaturarchiv in Bern zurück und sichtete Aberhunderte von unveröffentlichten Seiten mit kaum entzifferbaren Notizen von Highsmith. Glich sie mit bereits vorhandenen Biografien ab. Pflügte sich einen gangbaren Pfad durch das Spiegelkabinett eines Lebens und Schaffens.
Denn Highsmith sah ihre Figuren durchaus als Teil ihrer selbst. Nur waren dies mit einer Ausnahme keine Frauen, sondern immer Männer. Und unter den Männern die Täter. Patricia Highsmith war der talentierte Mr. Ripley. Der Hochstapler, der sich hinter der Identität eines anderen versteckt. So wie Highsmith die eine Seite ihrer Identität – die mit den Frauen – nicht in ihre Literatur einfliessen liess. Ausser einmal. 1952 in «The Price of Salt», ihrem innerhalb von kurzer Zeit eine Million Mal verkauften Zweitling. Der allerdings nicht unter ihrem Namen, sondern unter dem Pseudonym Claire Morgan erschien.
1990 entschied sie sich, den Roman noch einmal unter dem Titel «Carol» und unter ihrem eigenen Namen herauszugeben – 2015 verfilmte Todd Haynes den Roman mit Cate Blanchett und Rooney Mara –, es ist die Liebesgeschichte zwischen einer New Yorker Verkäuferin und einer etwas älteren Society-Lady, und es war damals eine der ersten lesbischen Liebesgeschichten, in der keine der Heldinnen depressiv, suizidal oder einsam endete.
«Carol» erzählte die Geschichte einer Liebe zwischen zwei Frauen in aller Selbstverständlichkeit, mit «zutiefst empfundener Schuldlosigkeit», sagt Vitija bei einem Gespräch im Zürcher Café Plüsch, «weil diese Liebe ja als etwas Positives empfunden wird». Ein kühnes Unternehmen. Bahnbrechend. Und Highsmiths Schlüssel in die Betten unzähliger Frauen. «Alle in der New Yorker Szene wussten damals, dass sie Claire Morgan ist», sagt Vitija.
Eine davon war die Autorin Marijane Meaker, eine von drei Ex-Geliebten, die Vitija für ihren Film interviewen konnte, eine von ihnen, die Berliner Künstlerin Tabea Blumenschein, ist inzwischen gestorben. Und Meaker, sagt Vitija, sei seit den Dreharbeiten 2019 vollends «in die Demenz verschwunden, sie kann sich nicht mehr erinnern, dass wir mit ihr gesprochen haben.» Meaker erzählt im Film davon, wie es war, mit Highsmith 1960 das kurze Glück eines gemeinsamen Haushalts zu geniessen. Und wie sie erst nach einer Weile herausfand, dass der Orangensaft, den Highsmith jeden Morgen mit in ihr Schreibzimmer nahm, zu einem grossen Teil aus Gin bestanden hatte.
Als «The Price of Salt» erschien, war Patricia Highsmith bereits ein Star. Alfred Hitchcock hatte ein Jahr zuvor ihr Romandebut «Strangers on a Train» verfilmt, sie war jung, sehr attraktiv, unterhaltsam und undurchschaubar. Die ersten Ideen zu Ripley hatte sie auch schon im Kopf. Sie galt als Fachfrau für Dandy-Psychopathen. Claire Morgan hatte da keinen Platz mehr. «The Price of Salt» funktionierte zwar für die homosexuelle Szene und den heterosexuellen Voyeur, doch eine angesehene und dennoch breite literarische Karriere war in diesem «Girls Novel»-Genre, wie Highsmith es nannte, nicht möglich, das war ihr klar.
Frauen hatten für Highsmith ihren Platz ausserhalb der Literatur. Sie waren Geliebte, Musen, Angebetete. Verehrt, erhöht, begehrt. Und das zu Dutzenden – oder waren es Hunderte? Einmal legte Highsmith eine Liste mit ihren Eroberungen an, ordnete sie nach Haar- und Augenfarbe, hatte oft mehrere gleichzeitig, gelegentlich auch drei am selben Tag, wanderte einer heimlichen Geliebten wegen nach England aus und so weiter. Es muss eine unglaublich kräftezehrende Liebeswirtschaft gewesen sein.
Doch es wäre ihr nie in den Sinn gekommen, sich an ihren Frauen zu messen. Auf Augenhöhe, zumindest beruflich, fanden sich nur Männer. Highsmiths Haltung war die eines klassischen Mackers, oder nicht? «Sie war der absolute Macker», pflichtet Vitija bei, «Frauen waren für sie ganz eindeutig das schwache Geschlecht. Sie entspricht dem klassischen Künstlergenie. Sie hat das Rollenverständnis von damals, auch das amerikanische, vollkommen internalisiert. Einfach das eines Mannes.»
Gleich zu Beginn von «Loving Highsmith» gibt es eine Überraschung, so mächtig wie ein gewisser eiserner Thron. Denn da steht der Name «Gwendoline Christie» auf der Leinwand. Die Ritterin Brienne of Tarth aus «Game of Thrones». Wie kommt ein Serien-Superstar als Sprecherin in einen Schweizer Dokfilm? Vitija hatte sich «Game of Thrones» nie angeschaut, aber sie hörte eine Verwandtschaft in den Stimmen von Highsmith und Christie. Und natürlich passte auch der Männerjob einer Brienne of Tarth zu dem der Patricia Highsmith.
Es sei ein «langwieriger Prozess» gewesen, die Schauspielerin zu gewinnen, ihre Agentur sei an diesem «Mini-Auftrag aus der Schweiz» nicht interessiert gewesen. Es war Christie selbst, die den Job unbedingt wollte, ihr Mentor, der schwule Schauspieler und Autor Simon Callow, hatte Highsmith gekannt. Schliesslich erschien sie mit einer perfekten Imitation von Highsmiths Stimme zum Dreh, so dass Vitija sie erst wieder etwas runterdimmen musste.
Die Welt, die Vitija und Highsmiths Ex-Geliebte im Film beschreiben, das New York, das Paris, das Berlin der 50er-, 60er- und 70er-Jahre, ist eine Welt der doppelten Böden und unscheinbaren Türen, hinter denen sich die Freiheit öffnet. «Bei aller Tragik, dass lesbische Liebe in der Öffentlichkeit nicht stattfinden durfte, war im Untergrund sehr viel und sehr viel Positives möglich. Highsmith hatte gerade an dieser Heimlichkeit Spass und genoss sie sehr. Sie zog bei allen Problemen, die ihr das privat verursachte, enorm viel Kraft aus der Subversion. Sie war Teil eines grossen Geheimclubs, dem sie sich sehr verbunden fühlte. Diese Verbundenheit ist bis heute eisern.»
Hat Patricia Highsmith damit gerechnet, dass ihre privaten Aufzeichnungen einmal publik werden? «Ja», sagt Vitija, «in ihren Tagebüchern ist immer wieder von der Nachwelt die Rede. Und einmal schreibt sie, dass ihr Werk eines Tages nicht mehr ohne ihren lesbischen Hintergrund gelesen werden wird und dass dies richtig ist. Sie wollte es.» Die Liebe als Schlüssel zur Literatur.
Die zweite Hälfte ihres Lebens verbringt Highsmith in Europa. Lebt in England und Frankreich und schliesslich aus steuerlichen Gründen ab 1981 bis zu ihrem Tod 1995 im Tessin. Sie beschliesst, dass Schnecken jetzt ihre liebsten Gefährten sind, und nimmt sie gelegentlich in der Handtasche auf einem Büschel Grünzeug mit oder versteckt sie unter ihren Brüsten, wie sie gern erzählte. Sie nähert sich jetzt, meint Vitija, eher dem Bild der bösartigen Menschenfeindin, das aufgrund ihrer Literatur schon früher von ihr entworfen wurde.
In ihren Tagebüchern hält sie jetzt obsessiv die prominenten Toten (darunter Max Frisch und Marlene Dietrich) fest. «Ich beneide Leute, die noch genügend Energie zum Tanzen haben», schreibt sie im August 1983. Sie ist erst 62 Jahre alt. Doch die Mädchen tanzen nur noch in ihrer Erinnerung.
«Loving Highsmith» läuft u.a. ab dem 3. März im Zürcher Lunchkino, am 9. März am queeren Filmfestival Pinkapple und ab dem 10. März im regulären Kinoprogramm. Alle Spezialvorstellungen finden sich hier.
Die Tagebuchzitate stammen aus: Patricia Highsmith – Tage- und Notizbücher. Herausgegeben von Anna von Planta. Diogenes Verlag, Zürich 2021, 1376 S., ca. 47 Fr.