Was in Gondo, dem kleinen Schweizer Bergdorf an der Grenze zu Italien, im Herbst 2000 passierte, wird von den Einwohnern Gondos kaum je jemand vergessen. Nach Tagen heftiger Regenfälle lösten sich am Samstagmorgen des 14. Oktober 2000 um ca. 10:30 Uhr oberhalb des Dorfes drei Betonelemente der Schutzwand. Jedes dieser Elemente wiegt je 450-500 Tonnen.
Zusammen mit Schlamm, Bäumen und Geröll donnerten sie mitten durch das Dorf bis in die Doveria, den Fluss in der Sohle der Gondoschlucht. Die Schlammlawine zerstörte einen Drittel des Dorfes. Zehn Häuser wurden dem Erdboden gleichgemacht, darunter ein Teil des geschichtsträchtigen Stockalperturms. 13 Personen verloren an diesem Tag ihr Leben, rund ein Zehntel aller Einwohner.
Für die Geschichte unserer Familie gäbe es viele mögliche Titel: «Das schwarze Wochenende», «Ein unverhoffter Streit», «Mamas Geburtstag» oder «Warum die 13 meine Glückszahl ist». Warum letzten Endes die bereits unzählige Male gehörte Floskel «Glück im Unglück» am besten passen würde, dürfte spätestens am Ende meiner Geschichte klar werden. Ich masse mir in keinster Weise an, meine Geschichte mit dem zu vergleichen, was andere Dorfbewohner an diesem Tag erlebt haben. Einige traf das Unglück weitaus schlimmer. Es ist mir aber nach 20 Jahren ein persönliches Anliegen, zu erzählen, wie ich einen der schwierigsten Tage meiner Familie als Zehnjähriger erlebt habe.
Eines der weggerissenen Häuser war jenes meiner Familie. Es wurde komplett zerstört. Hier lebte ich mit meinen Eltern und meinen zwei Geschwistern im Hotel Post, einem fünfstöckigen Haus, in welchem sich ein Restaurant, ein Festsaal, unsere Wohnung und 4 Hotelzimmer befanden.
Es war an einem Freitag dem Dreizehnten, an welchem wir entgegen allem Aberglauben mehr Glück hatten als je zuvor. Für meinen Bruder Pascal, damals 13 Jahre alt, meine Schwester Sarah (12) und mich (10) war es der Beginn der Herbstferien. Mein Bruder Pascal besuchte bereits die Oberstufe. Die Gemeinde Gondo/Zwischbergen besass lediglich eine eigene Primarschule, daher hatte er einen längeren Schulweg, der über Iselle (IT) und dann mit dem Zug nach Brig führte.
Pascal verliess das Haus jeweils früh und kehrte nicht vor 18:00 Uhr heim. An diesem Freitag war Pascal jedoch nicht bei uns in Gondo. Er war während der Woche mit seiner Schulklasse in einem Schullager in Saas-Grund, weit weg von Gondo. Die Nacht von Freitag auf Samstag sollte er alleine in unserer Zweitwohnung in Brig bleiben. Meine Eltern, meine Schwester und ich wollten am Samstag nach dem Mittagessen nachreisen, um die Herbstferien in Brig zu verbringen.
Man fragt sich nun zu Recht, warum man als Bergdörfler eine Zweitwohnung in einer Stadt hat und nicht umgekehrt. Die Wohnung hatte mein Vater in liebevoller Voraussicht bereits zirka ein Jahr zuvor gekauft, damit seinen Kindern die Mühseligkeit des Schulwegs über Italien erspart bleibt.
Als ich an diesem Freitag nach Schulende um 16:00 Uhr um ungefähr 16:02 Uhr zuhause ankam (Bergdorf, keiner der Primarschüler hatte einen langen Schulweg), war ich trotz des tagelangen, ununterbrochenen Regens mehr als gut gelaunt. Ich meine, ich war zehn, mein Bruder, der das Vorrecht über die Nintendo 64 innehatte, war nicht zu Hause und ich hatte nun Ferien – welches Kind wäre da nicht glücklich? Doch die gute Laune wurde später am Abend getrübt.
Geplant war, dass wir am Samstag nach dem Mittag nach Brig zu Pascal fahren. Mein Vater war der Ansicht, dass es ihm für sein Erwachsenwerden sicher gut täte, wenn er mal eine Nacht alleine in der Wohnung in Brig ist. Dies sollte in Zukunft sowieso mehr der Fall sein, damit er nicht mehr jeden Tag den langen Schulweg zurück nach Gondo antreten musste. Natürlich hatte meine Mutter diesbezüglich ganz andere Ansichten.
Pascal war die ganze Woche fernab von seinen Freunden, seiner Familie und seinem Heimatdorf im Schullager. Sie wollte nicht, dass er nun auch noch eine weitere Nacht alleine in Brig verbringen musste. Und so begann die Diskussion zwischen meinen Eltern, ob wir nun doch schon am Freitag oder wie geplant erst am Samstag fahren wollten.
Es war kein Streit, doch es war für meinen Vater etwas umständlich, den Planänderungswünschen meiner Mutter nachzukommen. Zum einen, weil es mittlerweile schon etwas später am Abend war und somit die nächtliche Fahrt über den Simplonpass bei diesem Wetter mit zwei Kindern schon zusätzlich mühsam war. Zum anderen kam noch der Organisationsfaktor hinzu: Das Gepäck für drei Kinder in den Herbstferien wollten wir erst am Samstagmorgen packen.
Meine Mutter gewann die Diskussion schliesslich mit dem Argument, dass sie am Samstag Geburtstag hatte und somit bereits den Morgen mit der ganzen Familie verbringen wollte. Wir machten uns also spätabends auf die knapp einstündige Fahrt nach Brig. So konnten wir am Samstagmorgen alle zusammen als komplette Familie den Geburtstag meiner Mutter feiern. Ich erinnere mich noch an die Diskussion meiner Eltern, jedoch nicht mehr an die Fahrt nach Brig oder wie wir dort Pascal nach einer Woche wieder sahen.
Nachdem wir unserer Mutter am Samstagmorgen in Brig zum Geburtstag gratuliert hatten, beschlossen unsere Eltern, mit uns im McDonalds Mittag zu essen – für Leute aus einem Dorf in einer Schlucht natürlich ein Highlight. Als wir fertig gegessen hatten und wieder nachhause wollten, ging mein Vater noch kurz auf die Toilette. Als er dort war, hörte er im Radio eine Meldung, dass es in Gondo eine Schlammlawine gegeben hatte, Genaueres war noch unklar.
Gondo war doch an einen Fels gebaut, wie sollte es da schon zu einer Schlammlawine gekommen sein? Er dachte an einen Irrtum des Radiosenders und nahm an, es sei vermutlich im «Gabi» passiert, einem kleinen Weiler zwischen Gondo und Simplon Dorf. Dort gab es immer wieder kleinere Lawinen, aber nie etwas Tragisches. Er dachte zu diesem Zeitpunkt noch, es sei sicher alles halb so schlimm.
Als wir wieder in der Wohnung in Brig waren, hatten wir unzählige verpasste Anrufe auf unserem Familienhandy. Alle wollten wissen, wie es uns gehe. Ein Festnetztelefon hatten wir nur in Gondo und da die Handykultur noch nicht so ausgeprägt war wie heute, nahmen wir dieses nicht an das Geburtstagsessen. Wir hatten auch noch nicht die Möglichkeit, uns im Internet über das Geschehen in Gondo zu informieren. Die Dortgebliebenen konnten wir nicht erreichen, was unserer Interpretation nach dem schlechten Wetter und der Lage des Dorfes geschuldet sein könnte.
Dennoch machte sich das erste Mal Angst und Unsicherheit in unserer Familie breit. Mein Vater beschloss, mit dem Auto nach Gondo zu fahren, um vor Ort nach dem Rechten zu sehen. Meine Geschwister und ich blieben mit unserer Mutter zu Hause und schauten Nachrichten, bis wir dort plötzlich die Bestätigung hatten.
Durch den starken Regen hatte sich bei der Schutzwand oberhalb des Dorfes, welche die Häuser vor Steinschlägen schützen sollte, ein See gebildet. Dieser sorgte dafür, dass die Schutzwand unterspült wurde. Irgendwann löste sie sich. Drei Elemente donnerten um ca. 10:30 Uhr mitten durch das Dorf und rissen alles mit, was ihnen im Weg stand. Im Fernsehen tauchten die ersten Bilder aus dem Dorf auf. Wir sassen auf der Couch und weinten.
Mein Vater war in der Zwischenzeit auf dem Simplonpass angekommen, dort wurde ihm die Weiterfahrt verwehrt. Die Strassen glichen bereits Flüssen und die Lage war komplett unübersichtlich. Gondo war weder über die Schweiz noch über Italien erreichbar. Nur mit Helikoptern konnte man die Bewohner nach Simplon Dorf evakuieren. Nach diversen Diskussionen mit der Polizei gab mein Vater schliesslich klein bei und trat wieder die Rückreise zu uns an – ihm blieb keine andere Wahl. Den Geburtstag meiner Mutter hatten wir nicht mehr weiter gefeiert.
Am Sonntag tat mein Vater alles, um an Informationen über die Lage zu kommen. TV und Radio liefen parallel. Wir Kinder sollten unterdessen in unserem Zimmer bleiben und durften spielen. Bald drang die Zahl von 18 Vermissten an die Öffentlichkeit. In Gondo kannte jeder jeden, somit bedeuteten 18 vermisste Leute 18 vermisste Freunde und Bekannte. Unser Handy, ein graues Nokia 3210, klingelte an diesem Tag ununterbrochen. Bis heute hasse ich diesen verdammten Klingelton – «Der Ritt der Walküren» von Richard Wagner.
Gefühlt jeder Mensch, mit dem unsere Familie jemals Kontakt hatte, versuchte uns zu erreichen und wollte sich erkunden, wie es uns geht. Unsere Bekannten im Dorf wussten, dass wir erst am Samstag nach Brig wollten. Unsere spontanen Planänderungen hatten wir am späten Freitagabend niemandem mehr mitgeteilt.
Alle dachten, wir seien noch in unserem Haus in Gondo. Einer unserer Nachbarn, der Bruder meines besten Freundes, hörte am Samstagmorgen das Grollen der Lawine, schaute aus dem Fenster und sah, wie unser Haus in wenigen Sekunden dem Erdboden gleich gemacht wurde, ohne das Wissen, dass wir uns nicht in der Wohnung befanden.
Mein Vater kontaktierte die Kantonspolizei und informierte diese darüber, dass unsere fünfköpfige Familie in Brig ist. Die Zahl der Vermissten wurde von 18 auf 13 korrigiert. Es blieben 13 Mütter, Väter, Onkel, Tanten, Grosseltern und Bekannte. Mehr als diese Zahl war zu diesem Zeitpunkt nicht bekannt. Keine Namen, nur eine Zahl.
Montag 16. Oktober: Mein Vater holte am nächstgelegenen Kiosk die Lokalzeitung «Walliser Bote». Ich erinnere mich an das Foto auf der Titelseite, auf welchem ich zum ersten Mal unser Dorf nach der Katastrophe sah. Mitten durch den Dorfkern sah ich die komplette Zerstörung. Unser Haus war nicht mehr zu erahnen, geschweige denn zu sehen. Es ist ein Bild, welches sich, mit dem dazugehörigen Gefühl der Leere, der Ohnmacht und der absoluten Hilflosigkeit, tief einbrannte. Alles war weg, alles.
Als Kind konnte ich noch nicht einschätzen, was diese Katastrophe genau bedeutete. Mir fehlte noch etwas das Verständnis dafür, einordnen zu können, was 13 vermisste Menschen bedeuteten. Für mich war einfach der Fakt da, dass unser Haus mit allem darin weg war und wir nicht wussten, wem es von den im Dorf Gebliebenen gut geht. Ich weiss noch, dass sich einer meiner ersten Gedanken, als ich das Bild zum ersten Mal sah, um unsere zwei Meerschweinchen Oliver und Biggedi drehte, die wir für die Ferientage in Gondo zurückliessen. Ein Bekannter sollte sich um sie kümmern. Jetzt hatten wir nur noch das, was wir für die Ferien nach Brig eingepackt hatten. Kindheitserinnerungen mit samt allen Fotos und Videos waren weg.
Es folgten Tage, an denen das Ausmass der Katastrophe immer mehr zum Vorschein kam und wir die traurige Gewissheit erhielten, dass keiner der 13 Vermissten lebendig geborgen werden konnte. Nachdem zuerst immer wieder durch Klopfgeräusche in Trümmern Hoffnungen geweckt wurden, blieb die traurige Tatsache, dass 13 Menschenleben von der Lawine ausradiert wurden. Wir sahen in den Zeitungen die Häuser, aus welchen Klopfgeräusche gehört wurden, und wussten somit auch, um welche vermissten Personen es sich womöglich handelte.
Es folgten Wochen, in denen wir den Dorfbewohnern, welche ebenfalls ihr Haus verloren hatten und verletzte Verwandte im Spital in Brig hatten, Unterschlupf boten. Das Zimmer, welches ich mir mit meinem Bruder teilte, war nur noch mit Matratzen vollgestopft, auf denen alle schliefen. Ich erinnere mich noch, als wir im Migros Brig waren und das Nötigste kauften. Ich traf zufällig auf meinen besten Freund, von dem ich bis zu diesem Moment nichts gehört hatte. Wir fielen uns in die Arme und liessen uns eine gefühlte Stunde nicht mehr los. Ich war zehn, er neun.
Nun hatte ich das Ausmass der Katastrophe realisiert und was es bedeutete, dass 13 Personen gestorben sind.
Nachdem ein Grossteil der Aufräumarbeiten abgeschlossen waren, wurden in der Turnhalle die noch brauchbaren Fundstücke zusammengetragen, und die Familien konnten schauen, ob etwas von ihnen dabei war. Von mir fand man ein Buch, welches ich am letzten Tag der Schule auf meine Schultasche im Schrank neben dem Zimmer legte. Ich dachte, wenn ich dann aus Brig zurückkehren würde, würde es mich so daran erinnern, einen Text für die Schule zu lesen. Bis heute stelle ich mir vor, was ich statt diesem Buch auf die Schultasche hätte legen können …
Die Schule in Gondo wurde nach der Katastrophe vorübergehend geschlossen und wir Kinder wurden in Brig in einem ehemaligen Kindergartenzimmer weiter unterrichtet. Sofern man von Unterricht reden kann. Es war eher eine Gruppentherapie, in der wir Kinder versuchten, das Erlebte zu verarbeiten. Hierbei half uns die Solidarität aus der ganzen Schweiz. Wir wurden mit Briefen und Geschenken überhäuft und bekamen Einladungen von anderen Schulen zu Sportturnieren und Ausflügen. Eines der Highlights: Wir, das waren rund elf Schulkinder, durften kurz vor Weihnachten alle zusammen in Brig shoppen gehen. Wir durften für einen gewissen Betrag einkaufen, was immer wir auch haben wollten. Ich kaufte mir einen Pokedex, welcher bis dahin für mich persönlich wohl die grösste Errungenschaft war.
Nachdem wir das Schuljahr im Sommer 2001 beendet hatten, wurde das provisorische Schulzimmer aufgehoben. Einige der Schulkinder begannen das nächste Schuljahr in verschiedenen Nachbargemeinden, einige kehrten mit ihren Familien zurück nach Gondo beziehungsweise Simplon-Dorf, und ich blieb mit meiner Familie in Brig. Nach Gondo kehrten wir nur noch als Besucher zurück.
An diesem 14. Oktober 2000 verloren meine Schulkameraden und Schulkameradinnen ihre Mütter, Väter, Tanten, Onkel, Grossmütter, Grossväter, Freunde oder Bekannte. Es dauerte einige Zeit, bis alle aus dem Dorf langsam wieder von Normalität reden konnten. Meiner Familie wurde erst dann langsam bewusst, welch Glück im Unglück wir an diesem Tag hatten. Wären wir am Freitag dem Dreizehnten nicht nach Brig gefahren, wären wir wohl am Samstag um 10:30 Uhr in unserem Haus in Gondo gewesen und jemand anderes würde nun seine Geschichte von diesem Tag erzählen.
Es war damals für die ganze Schweiz unfassbar und ich habe die grosse Welle der Solidarität quer durchs Land gespült. Die Situation machte alle betroffen, auch wenn man weit weg war.