Die 2000er erleben zurzeit ein Revival – in der Musik, der Mode, Serien. Warum kommen die Trends der Nullerjahre gerade jetzt zurück?
Moritz Ege: Trends kommen meist in einem Abstand von zwanzig bis dreissig Jahren wieder zurück. Das hat viel mit persönlichen Erinnerungen in der Kindheit oder der frühen Jugendphase zu tun. Andererseits spricht die Idee der 2000er möglicherweise auch einen Zeitgeist an, ein schwer zu definierendes Gefühl.
Wofür steht denn die Popkultur der Nullerjahre?
Medial war sie vor allem durchs Fernsehen geprägt. Das Fernsehen, aber auch die Musik, waren eine grosse geteilte Generationenerfahrung. Filme, Realityfernsehen und Castingshows von damals waren ein Gesprächsthema für alle. Das ist mit personalisierten Algorithmen auf Social Media heute anders. Social Media existierte zwar bereits, aber erst in sehr rudimentärer Form. Die 2000er waren wohl die letzte Generation mit einer vereinheitlichten Popkultur-Erfahrung.
Künstlerinnen wie Billie Eilish, Charli XCX und Co. feiern den Y2K-Trend – Y2K steht für Year 2000. Es scheint, als wären die 2000er vor allem bei der Gen Z hoch im Kurs, die in diesem Jahrzehnt selbst noch Kinder waren. Haben Sie dafür eine Erklärung?
Retro-Trends werden oft durch die Spätgeborenen einer Generation zurückgebracht. Sie verbinden eine Kindheitsnostalgie damit, und gleichzeitig ist die Zeit für sie fremder und interessanter als für jene, die in den 2000ern schon älter waren.
Bei den 2000ern denkt man schnell an Britney Spears und Bravo-Hits. Welche Perspektiven werden in der heutigen Nullerjahre-Nostalgie ausgeblendet?
Die Erinnerung an das Jahrzehnt ist notwendigerweise selektiv. Vermutlich blendet der aktuelle Trend achtzig Prozent von dem, was in den 2000ern passiert ist, aus. Ein Beispiel: Die Popmode weisser Stars wie Britney Spears oder Paris Hilton war stark von afroamerikanischen R'n'B-Stars der 90er-Jahre inspiriert – etwa die Trainingsanzüge. An die modischen Vorbilder wie Missy Elliott oder Destiny’s Child erinnern sich heute aber deutlich weniger Leute. Und was heute auch oft vergessen wird: Neben den Pophymnen gab es in den 2000ern sehr erfolgreichen Gangsta-Rap und auch viele Rock- oder Metalbands. Aber man muss auch sagen: Bei einem Retro-Trend geht es sowieso nicht darum, dass man eine Zeit korrekt erinnert.
Kann man also überhaupt von «der» Popkultur der 2000er sprechen – oder ist dieses einheitliche Bild erst im Nachhinein entstanden?
Die Einteilung in Jahrzehnte ist grundsätzlich fragwürdig. Es ist ja nicht so, als ob sich die Welt von selbst in Zehnjahresabschnitte organisieren würde. Es ist eher ein Raster, das hilft, gesellschaftliche und modische Phänomene anzuschauen.
Welche gesellschaftlichen Ereignisse prägten die 2000er-Jahre?
Es gab zwei grosse Brüche in diesem Jahrzehnt: Der erste war der 11. September 2001, als Islamisten vier Flugzeuge entführten und zwei davon in das World Trade Center flogen. Der zweite war die Bankenkrise 2008, nach der sich in Europa und den USA ökonomisch und politisch vieles verschlechterte. Ausserdem haben sich Ende der 90er-Jahre die Geschlechterverhältnisse verändert. Junge Frauen spielten eine viel prominentere Rolle in der Popkultur. Viele der weiblichen Popstars dieser Zeit stehen auch dafür: Die Welt steht uns offen.
Trotzdem bleiben die 2000er auch als Jahrzehnt in Erinnerung, in dem problematische Körperbilder glorifiziert wurden: Bodyshaming und die Sexualisierung von Teenie-Stars prägten Formate wie Germany’s Next Topmodel oder die Filme und Reality-Shows dieser Zeit.
Die 2000er waren toxisch und progressiv zugleich. Viele Popstars dieser Zeit verkörperten eine postfeministische Haltung. Sie traten nicht feministisch auf, strahlten aber aus: Heute dürfen und können wir ja alles, wir brauchen gar keinen politischen Feminismus mehr.
Heute wissen wir, dass Essstörungen, psychische Probleme und Übergriffe ebenso zur Realität vieler Sängerinnen und Filmstars gehörten. Wann veränderte sich unser Blick auf das Jahrzehnt?
Ich denke, es ist zu einem grossen Teil der #MeToo-Bewegung zu verdanken, dass viele heute kritischer auf die 2000er-Jahre schauen und eine allzu heimelige Sicht auf diese Zeit hinterfragen.
Müssen wir uns Sorgen machen, dass mit der Rückkehr der 2000er-Trends auch alte Körperbilder wieder Auftrieb erhalten?
Wenn normierende Schönheitsideale jetzt wieder stärker auftreten, ist der 2000er-Trend vielleicht ein Teil davon, aber sicher nicht die Ursache. Es gibt zwar Stimmen, die im Y2K-Trend eine konservative Tendenz sehen. Ich bin mir da aber nicht so sicher. Denn es gibt sehr unterschiedliche Formen, wie diese Mode ausgelebt wird. Zum Beispiel ist die Y2K-Mode in der Gegenwart neben den körperbetonten Styles auch von Looks geprägt, die nicht binär sind.
Klimawandel, Kriege, voranschreitende Autokratien – viele Junge sehen die Weltlage düster. Ist die 2000er-Nostalgie auch eine Flucht vor der Gegenwart?
Popkultur ist immer auch eine Flucht. Es geht nicht zuletzt darum, Spass zu haben im Hier und Jetzt und gemeinsame Erfahrungen zu schaffen, ausserhalb der Welt von Schule, Arbeit, Politik. Vieles an der 2000er-Ästhetik wirkt unbeschwert, fröhlich, optimistisch – also wie ein Kontrast zur Gegenwart. Die Popkulturforschung geht davon aus, dass Retro-Phänomene in den letzten dreissig Jahren häufiger und wichtiger geworden sind, zum Beispiel in der Musik. Radikal Neues oder grosse Gesellschaftsentwürfe fehlen. Die Popkultur ist nostalgischer geworden und der politische Zeitgeist pessimistischer, das passt zusammen. Die popkulturellen Bezüge auf die Vergangenheit müssen aber nicht nur eine Flucht vor der Wirklichkeit sein. Man kann daraus auch neue Energie ziehen.
Schönheitsoperationen, Botox und tonnenweise Make-up sind allgegenwärtig…
Ich sehe da kaum eine Entwicklung…