Am 6. September beginnt in Istanbul einer der grössten Berufungsprozesse der türkischen Justizgeschichte. Der 66-jährige Sektenführer Adnan Oktar wehrt sich dagegen, den Rest seines Lebens hinter Gittern zu verbringen. Er wurde erstinstanzlich zu einer tausendjährigen Gefängnisstrafe verurteilt, unter anderem wegen Unterstützung einer Terrororganisation, Spionage und Kindsmissbrauchs. Mit ihm waren 235 weitere Sektenanhänger angeklagt.
Oktar ist der wichtigste Vertreter des islamischen Kreationismus. Er legt die Schöpfungsgeschichte wörtlich aus, bezeichnet die Evolution als Lüge und den Darwinismus als Ursache allen Übels.
Jahrzehntelang schützte die türkische Regierung die Sekte. Doch dann liess Präsident Erdogan sie kurz nach der Gülen-Bewegung ebenfalls fallen.
Auf den ersten Blick wirkt die Sekte nur bizarr. Oktar umgab sich mit einem Harem von jungen Frauen mit operierten Brüsten, aufgespritzten Lippen und tätowierten Augenbrauen. Damit wollte er angeblich die Schönheit der Schöpfung preisen.
Doch die Strukturen der Sekte sind gefährlich - und sie reichen bis in die Schweiz. Davon wird vor dem Gericht in Istanbul eine wichtige Zeugin berichten: die 19-jährige Serra Mohammadvalipour. Sie wird erzählen, wie sie als Zehnjährige dem Sektenführer zur Heirat versprochen wurde - von ihrer eigenen Mutter. Damals lebte sie in Hergiswil im Kanton Nidwalden.
Obwohl die meisten Sektenmitglieder in Haft sind, ist die Organisation noch aktiv. Die Propagandaabteilung versucht die Klägerinnen - es sind vor allem Frauen - mit gezielten Diffamierungen mundtot zu machen. Über Serra Mohammadvalipour verbreitet die Sekte auf Onlineplattformen Lügen, die auf Akten der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (Kesb) Nidwalden aufbauen. Die Behörde hat einem Anwalt der Sekte die Originalakten über Serras schwierige Kindheit ausgehändigt. Wie konnte das passieren?
Davon handelt diese Recherche. Sie stützt sich auf Akten der türkischen Justiz und der Kesb Nidwalden sowie auf Gespräche mit Serra Mohammadvalipour. Sie ist bereit, ihre Geschichte unter ihrem richtigen Namen und mit Kindheitsfotos zu erzählen. Um sich zu schützen, will sie aber keine aktuellen Fotos und keine aktuellen Angaben von sich bekannt geben. Wegen der Propaganda der Sekte hat sie Probleme an ihrer Universität erhalten.
Serra wird im Jahr 2003 in Istanbul als Tochter einer Türkin und eines Iraners geboren. Als sie zwei ist, trennen sich ihre Eltern. Ihre Mutter lernt danach einen Türken in der Schweiz kennen, worauf die beiden nach Solothurn und später nach Hergiswil ziehen.
Hier läuft bei einer Nachbarin immer der Fernsehkanal A9, der Sender von Adnan Oktar. Die Mutter gerät in den Sog der grellen Welt des türkischen Playboys und will Teil davon werden. Sie richtet für ihre Tochter eine Facebook-Seite mit Fotos in aufreizenden Posen ein und knüpft damit Kontakte zu hohen Funktionären der Sekte.
Es funktioniert: Serra und ihre Mutter erhalten eine Einladung für einen Besuch in Adnan Oktars Fernsehstudio in Istanbul.
Die Mutter stylt ihre damals 10-jährige Tochter wie eine erwachsene Frau: mit High Heels, Make-up und roten Lippen. Der Sektenführer bewundert die Schönheit des Mädchens und berührt sie an Beinen und Armen und spricht über ihre Brüste und ihren Hintern. Die Mutter vereinbart mit ihm bei weiteren Besuchen, dass er ihre Tochter mit 18 heiraten werde. Sie erhofft sich davon selber ein Leben im Luxus.
Serra ist innerlich zerrissen und weiss nicht recht, wie sie damit umgehen soll. Ihr Erweckungserlebnis hat sie in einer Schulstunde in Hergiswil. Sie lernt ein einfaches Prinzip kennen: «Mein Körper gehört mir.» Niemand dürfe sie gegen ihren Willen berühren, auch nicht ihre Eltern. Plötzlich wird ihr bewusst, dass es nicht richtig ist, was ihre Mutter mit ihr macht. Sie befürchtet aber, dass die Leute ihr die Geschichte nicht glauben könnten, wenn sie sich ihnen anvertraut.
Deshalb nimmt sie im Alter von neun bis zehn mit ihrem iPhone 4 heimlich mehrere Gespräche mit ihrer Mutter auf. Später werden diese Tonaufnahmen wichtige Beweise vor Gericht sein. Adnan Oktar wird darin als «Lehrer» bezeichnet, so nennen ihn seine Anhänger.
Serra: Weisst du, was das Problem ist, Mama?? Er ist zu alt. Er erwartet etwas von mir, wenn ich heirate.
Mama: Was wäre anders, wenn er jung wäre?? Zum Beispiel Salih!? Er ist jung, aber pleite.
Serra: Aber Salih ist ein sehr hübscher Junge.
Mama: Ein Nichtsnutz! Kauft dir der Hübsche auch schöne Kleider?
Serra: Aber geht es wirklich nur um Geld, Mama?
Mama: Ja! Du bist jetzt jung, du wirst es verstehen, wenn du älter bist. Er ist ein reicher Mann, ein starker Mann, ein Mann mit Macht. Du hast ein besseres Leben verdient als ich. Schau dir das Leben der anderen an. Hast du Berens Ehemann gesehen? Was für ein hässlicher Mann. Er ist sogar hässlicher als mein Ehemann. Dabei ist Beren so ein hübsches Mädchen.
Serra: Du willst, dass ich den Lehrer heirate? Aber er ist auch hässlich.
Mama: Überhaupt nicht. Er ist sehr hübsch!
Serra: Aber alt!
Mama: Weisst du, wie traurig es wäre, wenn der Lehrer hören würde, was du gerade gesagt hast! Du bist unhöflich.
Mit dem Tondokument wendet sich Serra an ihre Lehrerin, welche die Schulsozialarbeiterin beizieht. Serra hat schnell Deutsch gelernt und erzählt ihre Geschichte klar und widerspruchsfrei. Die Schulsozialarbeiterin glaubt ihr sofort.
Gemäss der Entwicklungspsychologie wäre es auch untypisch, dass eine Zehnjährige ihre eigene Mutter mit Falschaussagen derart belasten würde. Erst mit 12 bis 13 Jahren neigen Jugendliche dazu, in Konflikten schwere Vorwürfe gegen ihre Eltern manchmal übertrieben darzustellen.
Die Schulleitung macht eine Gefährdungsmeldung und schaltet die Kesb Nidwalden ein. Diese setzt für Serra einen Erziehungsbeistand ein und ordnet eine Fremdplatzierung ein. In den Unterlagen steht, dass die Mutter ihre Tochter regelmässig geschlagen und eingeschüchtert habe. Die Mutter streitet alles ab und gibt an, Serra wolle sich selber immer so aufreizend kleiden und suche von sich aus den Kontakt zu Adnan Oktar. Die Mutter wehrt sich aber nicht gegen die Fremdplatzierung. Niedergeschlagen gibt sie zu Protokoll:
Serra lebt in unterschiedlichen Pflegefamilien und Institutionen. Sie hat gute Zeiten, aber sie kommt nie richtig an. Sie sehnt sich nach ihrem Vater und hat Angst vor der Sekte von Adnan Oktar. Sie erhält immer wieder bedrohliche Anrufe und SMS von Sektenmitgliedern.
Die Sekte ist in dieser Zeit auch in der Schweizer Öffentlichkeit präsent. Dokumentiert sind Standaktionen in Basel, Bern und Biel. Sektenmitglieder organisieren an prominenten Orten, zum Beispiel in Bahnhofshallen, kleine Fossilienausstellungen. Dabei präsentieren sie versteinerte Tierknochen neben heutigen Skeletten. Mit diesen simplen Vergleichen glauben sie, die Evolutionstheorie widerlegen zu können. Die Botschaft dazu lautet:
Serra trifft in dieser Zeit eine Entscheidung, die sie bis heute bereut. Da sie sich in der Schweiz vor der Sekte nicht mehr sicher fühlt, flieht sie in die Türkei zu ihrem Vater. Die türkischen Behörden sichern ihr Schutz zu. Heute lebt ihr Vater im Iran und sie alleine in der Türkei. Sie fühlt sich auch hier nicht mehr sicher und würde am liebsten zurück in die Schweiz. Doch diese Chance ist verstrichen. Ihre Mutter hat das Aufenthaltsrecht verloren und wurde in Istanbul am Flughafen verhaftet. Sie ist eine der 235 Mitangeklagten neben Adnan Oktar. Vorgeworfen wird ihr, die kriminelle Organisation unterstützt und ihre Tochter dem Sektenführer versprochen zu haben. Wie Oktar bestreitet sie alles. Es gilt die Unschuldsvermutung.
Die Mutter bleibt der Sekte auch im Gefängnis treu. Hier hat sie sich in eine Intrige gegen ihre eigene Tochter einspannen lassen. Aus der Haft stellt sie einem türkischen Anwalt mit Büro in Zürich eine Vollmacht aus, mit der sie ihn beauftragt, bei der Kesb Nidwalden Serras Akten einzuholen.
Die Kesb heisst das Akteneinsichtsgesuch prompt gut. Sie schickt dem Anwalt sogar die Originalakten per Post und bittet ihn, diese unbeschädigt zu retournieren. Der Anwalt teilt die Dokumente mit der Sekte, die damit ihre Verleumdungsaktion gegen Serra zu begründen versucht.
Die Kesb-Akten enthalten intime Informationen wie zum Beispiel einen handgeschriebenen Brief von Serra an ihre Lehrerin oder die Diagnose eines psychiatrischen Gutachtens. Jugendpsychiater haben wegen der geplanten Zwangsheirat eine posttraumatische Belastungsstörung erkannt. Serra wollte sich nach dem Vorgefallenen zeitweise von niemandem berühren lassen.
Die Sekte verwendet die Diagnose, um Serra damit als psychisch krank und somit als unglaubwürdig zu erklären. Sie verschweigt dabei allerdings, dass die Jugendpsychiater Serra ansonsten als stabil und ihre Aussagen als glaubwürdig eingestuft haben.
Serra erzählt ihre Geschichte ruhig und distanziert. Wenn sie zum Beispiel das Foto mit sich selber und Adnan Oktar anschaut, wundert sie sich: «Das ist doch nicht normal, dass eine Zehnjährige so geschminkt und gestylt wird.» Doch wenn sie von der Aktenherausgabe der Kesb Nidwalden spricht, bricht ihre Stimme. Die 19-Jährige stellt immer wieder die gleiche Frage:
Das Gesetz sieht in Kesb-Fällen grundsätzlich für alle Verfahrensbeteiligten ein Recht auf Akteneinsicht vor - ausser es sprechen schutzwürdige Gründe von verfahrensbeteiligten Personen dagegen. Mit anderen Worten: Die Mutter hat das Recht auf Akteneinsicht, falls dies ihrer Tochter nicht schadet.
Das Einsichtsrecht ist eigentlich eine gute Sache. Transparenz kann in diesen schwierigen Fällen hilfreich sein. Das funktioniert aber nur, wenn die Kesb jede Aktenherausgabe sorgfältig prüft.
Im Nachhinein ist klar: Die Kesb hat einen Fehler begangen. Sie hätte die volljährige Tochter anhören und die Akten danach nur teilweise herausgeben sollen. Höchstpersönliche Angaben wie psychiatrische Diagnosen hätte die Behörde schwärzen müssen.
Würden die gleichen Kesb-Verantwortlichen, die damals Serra betreuten, noch heute bei der Behörde arbeiten, hätten sie die Gefahr vermutlich erkannt. Doch das Personal hat seither gewechselt.
Auf Anfrage teilt die Kesb Nidwalden mit, sie nehme immer eine sorgfältige Prüfung für eine Akteneinsicht vor. Nach Abschluss eines Verfahrens hätten alle Beteiligten Anrecht darauf, wenn sie ein schutzwürdiges Interesse glaubhaft machen könnten:
Die Medienanfrage beantwortet die Kesb allgemein, da sie nicht auf einzelne Fälle eingehen darf. Als sich Serra bei der Behörde beschwert, erhält sie die gleiche Stellungnahme, ergänzt mit einem persönlichen Satz. Er lautet:
Der Anwalt, der die Akten mit der Sekte geteilt hat, heisst Abdullah Karakök (*). Er ist Mitglied des Zürcher und des Schweizer Anwaltsverbands.
Frage an Karakök: Wie können Sie es mit Ihrem Gewissen als Zürcher Anwalt vereinbaren, eine türkische Sekte bei der Verleumdung eines Opfers zu unterstützen?
Er antwortet nicht darauf und verweist auf das Anwaltsgeheimnis.
Serras Betreuer in der Schweiz haben ihr stets davon abgeraten, in der Türkei gegen die Sekte auszusagen. Sie haben geahnt, dass sie in einen Shitstorm geraten würde. Warum hat sie es trotzdem getan?
* Klarstellung: Der namentlich genannte Zürcher Rechtsanwalt hält fest, dass er zu keinem Zeitpunkt den erwähnten Sektenführer oder die Sekte vertreten hat.
Ich ziehe meinen Hut vor Serra.