Sie sei eine Kriegshure. Eine «Griagshuara», sagt eine junge Davoserin zu ihrer eben heimgekehrten, hochschwangeren Schwester. Die Schwangere heisst Johanna Gabathuler (Dominique Devenport), hat die letzten Jahre in einem Feldlazarett in der Nähe von Verdun als Rotkreuz-Schwester gearbeitet, durfte aus Personalmangel selbst Operationen durchführen und lebte ein weit freieres Leben als die Frauen zuhause. Sex mit Patienten inklusive.
Johannas Schwester (Anna Schinz) hat unterdessen mit ihrem Vater versucht, das marode Kurhaus in Davos zu retten. Denn 1917, mitten im Ersten Weltkrieg, bleiben viele reiche Gäste aus, leere Betten werden von Kriegsverletzten belegt. Die dringend nötige Geldspritze fehlt. Für die soll jetzt Johanna sorgen, indem sie mit einem potenten Grossrat verheiratet wird. Der selbstverständlich nichts von Johannas Kind erfahren darf. Das Kind muss wegorganisiert werden.
Bis zur Hochzeit darf Johanna in der kurhauseigenen Klinik an der Seite des aparten Doktor Mangold (David Kross) arbeiten. Furcht kennt sie keine. Sie hat an der Front alles gesehen, repariert und amputiert, was ein menschlicher Körper so hergeben kann. Daneben liest sie den pazifistischen Bestseller «Die Waffen nieder!» der Friedensnobelpreis-Trägerin Bertha von Suttner. Doch das Leben im Kurhaus stellt sie bald vor weit diffizilere Operationen. Denn das luxuriöse Seuchenhaus ist nicht nur ein Wellnesscenter für mehr oder weniger Lungenkranke, sondern selbst ein Kriegsschauplatz, ein diplomatischer, gelegentlich aber auch ein ganz handfester.
Da treffen Waffenhändler auf Spioninnen und Spione aller in den Ersten Weltkrieg verwickelten Nationen, da verwandeln sich ehrbare Diplomaten in gefährliche Verräter und wer noch nicht korrupt ist, wird korrupt gemacht. Es gibt kein gutes Leben auf dem Zauberberg und hinter so mancher Biografie verbirgt sich eine ganz andere.
Deutsche, Engländer, Russen, Franzosen und Belgier intrigieren da mit- und gegeneinander, die Entente gegen die Mittelmächte, die Objects du désir sind Geheimlisten, Sprengköpfe, Decodiergeräte und Wege, über die man Deutschland von Süden her schwächen könnte. Die Deutschen wiederum fragen sich, wie sie einen Russen namens Lenin zu ihren Gunsten instrumentalisieren könnten.
150'000 Spioninnen und Spione sollen während des Ersten Weltkriegs tätig gewesen sein, sagt der Historiker Jakob Tanner, und alle von ihnen hätten unzählige Helfer gehabt. Informationen wurden nicht nur über den direkten Weg, wie in der Serie, sondern auch über grosse internationale Organisationen wie etwa die katholische Kirche transportiert. Oder über die Verletzten von unterschiedlichen Kriegsparteien, die sich in der Schweiz in einem Sanatorium fanden. Die schweizerischen Errungenschaften von «Neutralität» und «Demokratie» funktionieren dabei als das Silbertablett, auf dem die Deals mit Informationen wie Kokslinien gezogen werden.
Natürlich ist Thomas Manns knapp vor dem Ersten Weltkrieg spielender Roman «Der Zauberberg» (er wird 2024 hundert Jahre alt) ein Götti von «Davos 1917». Schliesslich hat Mann den Mythos von Davos als Schmelztiegel einer kränkelnden, von widersprüchlichen Ideologien und Ideen beseelten internationalen Haute Volée geradezu erfunden. Eine der Hauptfiguren der Serie scheint direkt aus Manns Roman zu entspringen, nämlich die tuberkulöse deutsche Gräfin Ilse von Hausner (Jeannette Hain), eine gefährliche, mondäne, elegante Erscheinung. Sie ist die perfekte Zwillingsschwester von Manns geheimnisvoller Russin Madame Chauchat (ja, ihr Name bedeutet «chaud chat», heisse Katze).
Die Gräfin, die zur Lehrerin von Johanna wird, hat aber nicht nur eine fiktionale Schwester, sondern auch eine historische Vorbildfigur, nämlich die Spionin Elsbeth Schragmüller. Sie leitete beim deutschen Nachrichtendienst die Spionageabteilung gegen Frankreich und war die Führungsoffizierin der holländischen Tänzerin und Spionin Mata Hari. Bereits in den 30er-Jahren lieferte sie die Anregung für einen Roman und mehrere Filme, 1940 starb sie an Tuberkulose, ihr Bruder wurde zu einem wichtigen SA-Mann. Hinter der Figur der Johanna verbergen sich verschiedene Rotkreuz-Krankenschwestern, die damals aus Barmherzigkeit, gepaart mit einer unstillbaren Abenteuerlust, in den Krieg zogen.
Das historische Davoser Hotel Schatzalp, dessen Fassade, Terrasse und Dienstboteneingang oft in «Davos 1917» zu sehen sind (die Innenaufnahmen wurden in einem alten Sanatorium in Nordrhein-Westfalen gedreht), wird von «Zauberberg»-Fans als das Hotel betrachtet, in dem Manns Roman stattgefunden haben könnte. Doch während Manns Hotel eine von lauter verstiegenen Weltflüchtigen bevölkerte Blase kurz vor dem Platzen war, werden in «Davos 1917» die Geschicke der Welt äusserst aktiv verhandelt, entschieden oder verhindert. Das ist hochspannend, immer wieder total dramatisch, Lawinen, Explosionen, Mord, Totschlag, Gift, alles kommt zum Einsatz.
Das Spektakel kostet: Mit 18 Millionen Franken, wovon SRF 7 Millionen übernimmt, ist der Sechsteiler die teuerste Serienproduktion, die sich SRF bis jetzt geleistet hat, beziehungsweise nicht alleine leisten konnte. Doch mit der ARD fand sich ein potenter deutscher Produktionspartner. Jetzt wird «Davos 1917» in der Schweiz und in Deutschland zum grossen Vorweihnachts-Serien-Event.
Man kann «Davos 1917» vorhalten, dass sie Schweiz ausserhalb der Sanatoriums-Gesellschaft keine Rolle spielt, höchstens als Staffage, dass von der wirtschaftlichen Schieflage etwa, die ein Jahr später im gewaltdurchtränkten Generalstreik mündete, nichts zu sehen ist. «Frieden» hat das differenzierter gemacht. Doch das Team von «Davos 1917» hat sich für einen amerikanischen Erzählstil entschieden, für «eine Art Western mitten in den Alpen» (Regisseur Jan-Eric Mack), für grosse Konflikte, Spannung, Action und natürlich auch ein bisschen Partypracht à la «Babylon Berlin», da wird weder mit einer Nackttänzerin noch mit Opernarien gegeizt. Die Serie wurde für einen möglichst grossen, internationalen Markt zurechtpoliert.
Das ehrgeizige Unternehmen dürfte gelingen. Denn «Davos 1917» ist eine Nanosekunde vor perfekt: Geschichte, Look, Besetzung, mehr geht nicht, das ist mit wenigen Ausnahmen (ja, die gibt es, erstaunlicherweise gerade unter den prominenten Namen ...) toll gespielt, Devenport, die immer vornehme Hain, Kross und Schinz sind superb. Das ist scharf, schlank und schnell erzählt, man wünscht sich bloss, dass nicht so viel Sendezeit an Pferderitte im Schnee verschwendet würde, sie sind genau so überflüssig wie die ewigen Drohnenfahrten über Landschaften in «Wilder».
Apropos Schnee: Der ist echt und omnipräsent und sorgte für derartige Verausgabung, dass Dominique Devenport an einer Lungenentzündung erkrankte. Und weil David Kross bei der Kostümanprobe im Sommer auf einer schlanken Silhouette bestanden hatte, fehlte unter seinen Kleidern im Winter dann eben der Platz für genügen Thermo-Unterwäsche und Wärme-Pads. Der Schnee verbirgt eben nicht nur Landschaften und Leichen. Der Schnee tilgt auch jede Eitelkeit.
«Davos 1917» (sechs Teile) ist ab dem 15.12. integral auf Play Suisse zu sehen, ab dem 17.12., 20.05 Uhr, auf SRF 1 und ab dem 20.12. in der ARD.
Regie: Jan-Eric Mack, Anca Miruna Lăzărescu und Christian Theede. Drehbuch: Adrian Illien, Thomas Hess, Julia Penner und der 2023 verstorbene Michael Sauter.
Der Historiker/Linguist in mir ist neugierig, wie Davos dargestellt wird. Sehr nerdiges Detail: Anhand des Trailers kann man vermuten, dass die Hauptdarstellerin „Bündnerdeutsch“ spricht. Das wäre aber nicht ganz korrekt. Davoser, Prättigauer, Obersaxer und Rheinwalder sind Walser. Deren Vorfahren wanderten vor 800 Jahren aus dem Wallis ein - und sprechen noch so ähnlich. In Davos (lokal Tafaas genannt) sagt man z.B. „Schi“ für „Sie“ und „ünsch“ für „uns“. Die Davoser Zeitung nennt sich „ünschi Tafaaseri“ - unsere Davoserin.