Der Zweite Weltkrieg ist aus. In der Schweiz kreuzen sich die Wege von ehemals führenden Nazis mit denen von Knaben und jungen Männern, die das KZ Buchenwald überlebt haben. Klar, wer von der alten Schweizer Polit- und Wirtschaftselite bevorzugt wird. Doch die Generation ihrer Kinder arbeitet an einer neuen Zukunft. Die Textilunternehmertochter Klara (Annina Walt), ihr Verlobter Johann (Max Hubacher) und dessen Bruder Egon (Dimitri Stapfer) versuchen zu retten, was verloren scheint, die Menschlichkeit, eine Fabrik, sich selbst. Und gehen dafür durch ein Inferno aus Intrigen, Verbrechen und Traumata.
Selbst skeptische Historiker bescheinigen dem packenden Sechsteiler grösste Exaktheit in der Recherche. «Frieden» kostete 8 Millionen Franken, das entspricht auf die Minute umgerechnet etwa dem «Tatort»-Budget von SRF. Gedreht wurde während drei Monaten auf der Zürcher Klosterinsel Rheinau, im Kanton Glarus, im Kanton Fribourg, in Zürich und Bern. 70 Schauspielerinnen und Schauspieler, 70 Crew-Mitglieder und gut 1200 Statisten waren mit dabei.
«Frieden» ist wahnsinnig gut. «Blown away» ist ein blöder Ausdruck, trifft aber zu. Als ich das mit meinem Liebesleben zusammen schaute, war das Einzige, was uns irritierte, dass die Leute Mundart redeten. Das sieht irrsinnig hochwertig aus, das Drehbuch ist so gut, das Tempo so schnell, dass es insgesamt total unschweizerisch ist.
Michael Schaerer: Und diese Irritation blieb?
Nein, wir gewöhnten uns daran. Aber eure Messlatte muss schon ganz schön hoch gelegen haben.
Nicht nur bei mir, sondern auch bei Petra Volpe, der Schöpferin und Drehbuchautorin. Zu Beginn sollte es ein Spielfilm werden, ausgehend von den «Rat Lines» (Fluchtrouten) der Nazis durch Europa und von Charlotte Webers Buch «Gegen den Strom der Finsternis» über die Helferinnen in der Schweiz nach dem Zweiten Weltkrieg, aber dann verästelte sich das immer weiter, bis klar war: Dieser Stoff braucht eine Serie, um alle Facetten zu erzählen. Und natürlich, finde ich, muss man sich heutzutage am internationalen Standard messen und daran, was man selbst gerne sieht. Früher waren Serien für mich das, was man schaute, wenn man müde war. Vorabendprogramm. Heute gehören sie zum Besten, was man schauen kann. Klar waren unsere Massstäbe hoch.
Was schauen Sie denn am liebsten?
In letzter Zeit gefielen mir «I May Destroy You», «Collateral», «Killing Eve», «Duty/Shame», aber in Bezug auf das historische Gefühl inspirierten uns für «Frieden» auch «The Crown», «Das Boot» und «Babylon Berlin». Wir wollten das Gefühl der Aufbruchszeit nach 45 einfangen. Endlich ist Frieden! Die jungen Leute, die aktiv an der Grenze oder am Krieg mitgearbeitet hatten, konnten endlich ihr Leben so zu leben beginnen, wie sie das wollten, und wurden nicht mehr zurückgehalten von den äusseren Umständen. Das wollten wir einfangen.
Petra Volpe und Sie sind ja zwei Aargauer Spitzenkräfte. Die Suhrerin und der Aarauer. Sieht man die Schweiz anders, wenn man aus einem Kanton kommt, dessen Attraktionen eher etwas versteckt sind? Sieht man die Schweiz kühler, kritischer, genauer? Weniger sentimental?
Ich weiss nicht, ob es mit Geografie oder Herkunft zusammenhängt. Wahrscheinlich kann man in jedem Kanton eine verklärte, kritische, offene oder neugierige Haltung zur Schweiz einnehmen. Ich glaube, Petra und ich treffen uns in unserem Interesse an Menschen, an Geschichten und Schicksalen von Menschen und in der Frage, wieso Menschen was wie tun, wieso sie gewisse Entscheidungen fällen. Wir treffen uns in einem Gefühl, Geschichten erzählen zu wollen, welche die Leute dazu bewegen, ihre Herzen zu öffnen, aufeinander zuzugehen, Zivilcourage zu zeigen, für Dinge einzustehen ...
Das klingt jetzt sehr nett. Aber «Frieden» ist auch unglaublich brutal.
Ja! Hoffentlich! Wir wollten ja keine didaktische Geschichtslektion machen. Das Interessante ist, die Parallelen zu heute zu spüren, egal, ob das mit unserer Neutralität, dem Umgang mit Geflüchteten, Grenzschliessungen, Fragen der Wirtschaftlichkeit und der Moral zu tun hat. Und da braucht es einen genauen, sezierenden, vielleicht auch etwas bösen Blick, der es wagt, Dinge ans Licht zu zerren und sie auch in ihrer Hässlichkeit stehen zu lassen. Diesen Weg wollten wir gehen, ohne unsere Figuren dabei zu verlieren. Wir wollten das Serienformat dazu nutzen, dass man versteht, wieso die Figuren so handeln, auch wenn man es vielleicht verwerflich findet. Wir wollten keine Wohlfühloase schaffen, sondern uns in aller Direktheit und Härte mit dem auseinandersetzen, was damals auf die Leute eindrang.
Sie und Petra Volpe haben beide mit Kinderfilmen den internationalen Durchbruch geschafft. Petra Volpe mit dem Drehbuch zu «Heidi», das auf der ganzen Welt gezeigt wurde, Sie mit der Regie zu «Die kleine Hexe», die in Deutschland ein Riesenhit war. Welche Spezialqualifikation erlangt man, wenn man an Kinderfilmen arbeitet?
Kinder sind unglaublich gnadenlos. Man erhält immer sofort ein ungefiltertes Feedback. Sie lassen dich im Kino sofort spüren, wenn sie es nicht mehr lustig oder spannend finden. Man muss ganz scharf und genau schauen, wie man sie in eine Geschichte hineinführt, entführt und drin behält. Bei der «kleinen Hexe» war es nicht nur so, dass ich das Buch liebte, sondern auch die Möglichkeit, eine sinnlich-taktile Welt, die eine andere ist als unsere, zu erschaffen. Und mit dieser Welt wollte ich die Kinder packen. «Heidi» habe ich damals geschnitten. Wir machten Probevorführungen für Kinder und lernten enorm viel über Rhythmus, Aufmerksamkeit, Interesse.
Und das hat Sie jetzt geprägt für eine Arbeit wie «Frieden»?
Ja, natürlich. Auch wenn wir einen historischen Stoff angehen, auch wenn wir eine bestimmte Thematik aufarbeiten wollen, ist da natürlich der unbedingte Willen, das Publikum zu packen, zu involvieren, zu unterhalten und nicht loszulassen.
Also behandeln Sie jetzt Ihr Publikum immer ein wenig so, als würde es aus Kindern bestehen und infantilisieren die Erwachsenen?
Ich hoffe, daraus wird keine Schlagzeile! Es gibt ja immer die heiss diskutierte Frage: Wie oft muss man Dinge benennen, bis die Zuschauer sie verstehen? Wie deutlich muss man werden? Ich versuche, mein Publikum immer maximal ernst zu nehmen. Und wenn ich etwas zum zweiten Mal erzähle, ist es bereits langweilig. Ich bin selbst ein ungeduldiger Serienkonsument, ich werde gerne gefordert. Deshalb habe ich versucht, mein eigenes Zuschauerempfinden auch auf mein Publikum anzuwenden.
Als Petra Volpe «Die göttliche Ordnung», ihren Film über die Einführung des Frauenstimmrechts, machte, war es verrückt, wie intensiv die Leute danach miteinander darüber diskutierten. Auch innerhalb von Familien. Weil sehr viele Frauen von ihren Müttern wissen wollten: Wo warst du denn damals? Bist du für das Frauenstimmrecht auf die Strasse gegangen oder nicht? Denken Sie, dass «Frieden» einen ähnlichen Effekt haben wird?
Das weiss ich nicht. Aber natürlich hofft man immer, dass von einer Geschichte in den Herzen der Menschen etwas hängen bleibt. Und dass sie merken, dass man Dinge auch anders betrachten könnte. Es ist ja nicht so, dass das nicht alles historisch aufgeschafft wäre. Durch die Bergier-Kommission, durch Dissertationen. Aber die Nachkriegszeit ist in der Schweiz nicht präsent.
Nicht nur in der Schweiz nicht. Was war für Sie das Spannendste an der Nachkriegszeit?
Als wir recherchierten, war es für mich neu, wie hart die Schweiz direkt nach dem Krieg von den Alliierten kritisiert wurde. Und wie schnell sich das gewandelt hat. Wie sich das Feindbild in Richtung Sowjetunion verschob und man merkte, dass man jetzt wieder auf die Seite der Guten fällt und von den Alliierten nicht mehr zu den erweiterten Achsenmächten gezählt wird. Die Alliierten entdeckten via Wirtschaftsmacht und Finanzplatz ganz opportunistisch, wofür man die Schweiz gut brauchen kann. Durch diese Verschiebung wurde die Schweiz im Gegensatz zu Deutschland nicht dazu gezwungen, sich einer Aufarbeitung zu stellen. Uns wurde die Aufgabe, sich mit dem Zweiten Weltkrieg, dem Vorher, dem Während, dem Nachher, auseinanderzusetzen, gar nie aufgetragen. Die Schweiz vertraute darauf, dass sie wegschauen konnte und hinter ihrem Rücken schon richtig gemischelt wurde. Sowas wie Ethik und Moral stand gar nicht zur Debatte.
Wie war eigentlich Ihr Erstkontakt mit Petra Volpes Drehbuch?
Es hat mich umgehauen. Petras Genauigkeit, ihr Mut. Was sie dem Stoff zumutet. Genremässig ist es komplex, wir haben das Sozialdrama der Unternehmertochter Klara und der Jugendlichen, die Buchenwald überlebt haben. Und das vermischt sich mit der Bundesanwaltschafts-Geschichte, die sich zunehmend zu einer Thriller-Struktur entwickelt. Hinzu kommt ein Wirtschaftsstoff, bei dem es um eine Erfolgsstory und eine sachliche Diskussion geht. Alle Stränge leben von einem andern Rhythmus. Einer andern Art, wie man sich einer Figur annähern muss. Damit ein Thriller funktioniert, braucht es eine leicht erhöhte Tonalität, damit ich die Geschichte eines KZ-Jugendlichen erzählen kann, braucht es im Gegenteil eine Stille, einen Realismus. Petras Mut, die grossen Themen derart in einem Genremix, in einer wahren und möglichen Geschichte der Schweiz nach dem Zweiten Weltkrieg zu verbinden, das hat mich begeistert. Und dann berührten mich Klara, Johann und Egon in ihrer Eigenheit, ihrer unbehüteten Naivität, ihrem Trauma.
Haben Sie eine Lieblingsfigur?
Meine erste Liebe war Egon. Der junge Soldat, der traumatisiert von seinen Erlebnissen an der Tessiner Grenze zurückkommt. Klara und Johann starten als junges Liebespaar in die Geschichte, ihre Komplexität wächst mit der Geschichte, Egon bringt sie von Anfang an schon mit. Es ist einfach so, dass uns Figuren, die versehrt sind, die ein Geheimnis haben, von Anfang an direkter in eine Geschichte hineinsaugen, weil sie uns vielschichtiger erscheinen.
Sie haben mit Ihren drei jungen Hauptdarstellern auch riesiges Glück.
Ja. Das kann man nicht planen. Da kommen sie und bringen alles mit, ihre Augen, ihr Atmen und alle Figuren, die sie vorher schon in Filmen gespielt haben. Ich glaube, sie spürten einen gewissen Druck, ein Stück Schweizer Geschichte so zu erzählen, und sie wollten das alle möglichst gut machen. Sie recherchierten wie verrückt, die Geschichte selbst, aber auch das Rollenverständnis von damals, wie sich junge Leute bewegten, wie sie redeten, was sie sich zu sagen getrauten und was nicht, was eine Heirat bedeutete, was ein Ehebruch. Sie arbeiteten alle richtig, richtig hart.
Werde ich mir auf jeden Fall ansehen.