Die Schweiz erlebte im Oktober einen Rechtsrutsch: Die Schweizerische Volkspartei ging als grosse Siegerin aus den Nationalratswahlen hervor. Das sorgt für Unmut bei den progressiven Schweizerinnen und Schweizern. Die Fronten scheinen verhärtet – auch online oder am Stammtisch wirkt es so, als sei das Land tief gespalten.
Der Ton in der Diskussionskultur wird zunehmend rauer – die Rechten werfen den Linken vor, ideologisch verblendet zu sein, die Linken betiteln die Rechten als Neofaschisten. Oder etwa doch nicht?
Ivo Scherrer ist Politökonom und arbeitet für den Thinktank Pro Futuris. Er hat das Dialogformat «Lasst uns reden» mitentwickelt. Ziel ist, dass Menschen mit möglichst unterschiedlichen Meinungen miteinander ins Gespräch kommen. Er sagt, dass sich viele Menschen für den Austausch mit Andersdenkenden interessieren würden – und dabei anständig und gesittet bleiben.
Die affektive Polarisierung in der Schweiz ist im internationalen Vergleich laut verschiedenen Studien sehr hoch, weshalb?
Ivo Scherrer: Die Stimmbevölkerung hat sich in den vergangenen 30 Jahren ideologisch polarisiert. Das heisst, sie hat sich zunehmend den politischen Polen zugewandt. 1995 hatten noch 30 Prozent der Bevölkerung gesagt, sie würden sich der politischen Mitte zuordnen – 2019 waren es noch 14 Prozent. Auch die Schweizer Parteienlandschaft ist stärker polarisiert als jene in anderen Ländern. Die schweizerische Linke positioniert sich relativ weit links und die Rechte relativ weit rechts. Zudem haben die politischen Parteien einen vergleichsweise hohen Wähleranteil.
Welche Auswirkungen hat das auf das Miteinander?
Dieser Mix führt dazu, dass in der Schweiz ziemlich viele Menschen mit Antipathie auf Menschen schauen, die sie anderen politischen Gruppen zuordnen.
Wie aussagekräftig sind solche Studien überhaupt?
Internationale Vergleiche sind interessant, aber oft auch wacklig, da sich politische Systeme und Kulturen stark unterscheiden. Die zentrale Frage ist, inwiefern wir in der Schweiz ein Problem mit der Polarisierung haben – ob uns das Ausmass der Polarisierung daran hindert, gemeinsam unsere Zukunft zu gestalten. Wir sehen verschiedene Gefahren.
Welche Beobachtungen haben Sie gemacht?
Wir haben etwa gesehen, dass 2021 fast ein Drittel der Erwachsenen wegen Meinungsverschiedenheiten rund um Corona den Kontakt zu nahen Bezugspersonen abgebrochen hat – das ist kein gutes Zeichen für die Konfliktfähigkeit der Gesellschaft. Zudem sind gegenüber Minderheiten – etwa muslimischen, schwarzen oder jüdischen Personen – negative Stereotypen stark verbreitet, sie werden fälschlicherweise für gesellschaftliche Missstände verantwortlich gemacht. Und Verschwörungserzählungen erfahren viel Zuspruch – das ist Ausdruck davon, dass sich viele Menschen nach einfachen Erklärungen sehnen und versuchen, die Welt und andere Menschen in Gut und Böse zu unterteilen.
Welche anderen Herausforderungen bringt die Polarisierung mit sich?
Die Polarisierung wird dann zu einem Problem, wenn wir uns nur noch mit Menschen umgeben, die ähnlich denken und leben wie wir selbst. Wenn wir anderen mit Desinteresse begegnen, wenn wir uns mit einfachen Stereotypen zufriedengeben, wenn wir andere Gruppen für gesellschaftliche Probleme verantwortlich machen, und am Ende nicht mehr daran interessiert sind, auf andere zuzugehen und Kompromisse einzugehen.
Hat die Polarisierung auch positive Eigenschaften?
Ja, durchaus. Polarisierung kann Ausdruck von politischer Vielfalt sein. Die brauchen wir für eine lebendige Demokratie. Ich denke, wir erfahren eine Repolitisierung der Gesellschaft. Wir verhandeln wieder leidenschaftlicher über die Zukunft. Die Frage ist, ob wir es schaffen, auf eine Art zu streiten, in der wir gemeinsam klüger werden und gute Lösungen für gemeinsame Probleme finden, oder ob wir uns primär damit beschäftigen, uns gegenseitig die Köpfe einzuschlagen.
46,6 Prozent der Schweizer Wahlberechtigten sind für die Nationalratswahlen im Oktober an die Urne gegangen. Das heisst, mehr als die Hälfte der Schweiz ist apolitisch und nicht wirklich polarisiert. Oder?
Wir können nicht sagen, dass die 53,4 Prozent, die nicht an die Urne gegangen sind, apolitisch seien. Viele denken vielleicht, dass ihre Stimme nicht zähle. Das ist ein Ausdruck von Fatalismus. Und es gibt wohl Menschen, die nicht wählen gehen, weil sie im Grossen und Ganzen einverstanden sind mit der Politik des Landes. Und dann dürfen wir nicht vergessen, dass es viele andere Formen gibt, um sich politisch zu engagieren: etwa in Vereinen.
Wie macht man Politik zugänglich?
Wir versuchen Möglichkeiten zu schaffen, die es Menschen einfacher machen, sich aktiv zu beteiligen. Zum Beispiel haben wir den Zukunftsrat ins Leben gerufen – ein annähernd repräsentativer Rat von 80 Jugendlichen und jungen Erwachsenen zwischen 18 bis 24 Jahren. Sie haben sich an drei Wochenenden getroffen und neue Handlungsempfehlungen zur Verbesserung der psychischen Gesundheit erarbeitet. Das Thema haben sie selbst gewählt, weil sie da viel Handlungsbedarf sehen. Wir hatten 1200 Bewerbungen erhalten. Wir hatten nicht damit gerechnet, dass die Jugendlichen das so interessiert. Das war sehr schön zu sehen.
Diskussionen über das Gendern oder benzinfreies Autofahren sorgen immer wieder für heftige Diskussionen, sei es in der Kommentarspalte, am Stammtisch oder im Parlament. Gewisse Parteien nutzen die Emotionalität für den Wahlkampf aus. Wie sollte die Bevölkerung damit umgehen?
Ich denke, wir gewinnen, wenn wir uns bewusst mit unseren Emotionen auseinandersetzen. Welche Gefühle leiten meine Wahrnehmung? Wieso reagiere ich mit Angst, Wut, Irritation darauf, was andere sagen oder tun? Welche Teile meiner Identität sind gerade aktiviert? Woher kommen diese Gefühle überhaupt? Projiziere ich auf andere und mache sie für Dinge verantwortlich, für die sie nicht verantwortlich sind?
Also sollten wir alle mehr meditieren und zu uns finden?
(lacht) Ja, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen, hilft fast immer.
Sie haben das Projekt «Lasst uns reden» mitentwickelt, Ziel ist, dass Menschen mit möglichst unterschiedlichen Meinungen miteinander diskutieren. Machen Sie positive Beobachtungen?
Ja. Viele Menschen berichten uns, dass sie besser nachvollziehen können, weshalb Menschen andere politische Ansichten haben als sie selbst. Und: Sie lernen auch viel über sich selbst und ihr eigenen Ansichten. Das zeigt: Alle profitieren von Dialog – wenn er respektvoll und konstruktiv ist. Wir müssen einander nicht alle mögen – aber wir müssen es aushalten, dass andere Menschen anders denken und leben als wir.
Schauen Sie hoffnungsvoll ins neue Jahr?
Fast die Hälfte der Schweizer Bevölkerung sagte im Sommer, dass sie skeptisch seien, ob die Politik die grossen Probleme der Zukunft lösen könne. Dieses Bauchweh teile ich auch. Und gleichzeitig stimmt mich vieles optimistisch: Viele Menschen engagieren sich ehrenamtlich für eine bessere Zukunft und suchen den Kontakt zu Menschen, die anders denken und fühlen. Und noch etwas Persönliches: Ich bin Teil einer kleinen Gruppe von muslimischen und jüdischen Menschen, in der wir in Anbetracht des Kriegs in Gaza/Israel den Dialog miteinander pflegen. Wir versuchen, einen Raum zu schaffen, in dem wir gemeinsam trauern und unseren Schmerz über das immense Leid teilen können. Einen Raum, in dem verschiedene Narrative und Gefühle Platz haben. Ich finde es unglaublich schön, dass wir in dieser unendlich schwierigen Situation den Fokus auf das Gemeinsame legen können. Dass Dialog in einem solchen Kontext möglich ist, stimmt mich sehr hoffnungsvoll.