Erstens ist Genf eine schöne Stadt. Wahrscheinlich sogar die schönste der Schweiz. Zweitens sind Serien die schönste Freizeitbeschäftigung, seit es Bildschirme gibt. Drittens hat Genf gerade ein Problem mit ein paar Serienbriten, denn die stehen vor der Tür des Geneva International Film Festivals und wollen unbedingt Autogramme geben, schliesslich sind sie zuhause grosse Stars und machen das jeden Tag, und wahrscheinlich droht ihnen die Hand abzufallen, wenn das in Genf nicht auch möglich ist.
Es handelt sich um die Crew der britischen Serie «Inspector Barnaby» («Midsomer Murders»), die hier ihren 25. Geburtstag feiert. Und was ist ein Geburtstag ohne Autogramme? Das Festival weiss, dass die Genfer Einheimischen die Barnaby-Briten eher nicht als so grosse Stars betrachten, doch zum Glück ist Genf auch die Schweizer Hauptstadt der Expats. Die britische Expat-Community wird in Windeseile mobilisiert und steht rechtzeitig zum roten Teppich der Briten vor einem Kino, alle sind verrückt nach Autogrammen, der Geburtstag ist gerettet.
Willkommen am 28. GIFF, dem Schweizer Festival, wo so viele Serien laufen wie nirgendwo sonst. Serien, die einen grossen Geburtstag feiern. Serien, die bis jetzt noch keinen oder erst einen nationalen Markt hatten und innerhalb der nächsten Monate in die grosse Welt hinauskatapultiert werden. Serien, über die noch kein Mensch redet. Juwelen wie der schwedische Romeo-und-Julia-unter-Holzfällern-Thriller «Dark Heart». Oder die finnische Pilzvergiftungs-Groteske «The Man Who Died». Ein Traum.
Am GIFF sollte heuer Nicolas Winding Refn («Drive», «Walhalla Rising», «Pusher», «Neon Demon»), der schillernde Däne mit dem Fetisch-Komplex, eine Auszeichnung abholen. Doch kurz vor Festivalbeginn musste er operiert werden und jetzt sitzt er recht gebrechlich zuhause in Kopenhagen, in seinem auffallend rosa eingerichteten Office, und wird per Zoom zu einem Talk mit dem Genfer Publikum zugeschaltet. Am 5. Januar startet auf Netflix Winding Refns erste Serie, «Copenhagen Cowboy», eine Art «Kill Bill» auf Dänisch; eine junge Frau mit übernatürlichen Fähigkeiten macht sich auf einen Rachefeldzug gegen frühere Peiniger.
In seinem Universum aus glamourösen Oberflächen, in denen sich Sex und Gewalt immer eine Spur zu dekorativ spiegeln, gehe es um Reinheit, sagt der Regisseur. Um die Klarheit und Aufrichtigkeit einer Idee. Um Herzgeburten statt von Algorithmen frittiertes Fastfood. «Denn das wird überleben.»
«Ich bin ein Produkt des American Dream», erzählt Winding Refn, denn 1978, als er acht Jahre alt war, wanderte seine Familie nach Manhattan aus. In Dänemark war Fernsehen damals «so gut wie inexistent», doch «in Amerika wurde ich verzaubert». Nicht vom Kino, sondern vom Fernsehen. Er verbrachte Stunden vor dem TV-Gerät, die Fernbedienung in der Hand, und wurde zum süchtigen Switcher. Das kleine Gerät gab ihm Macht über das grosse; indem er in selbstgewählten Momenten von einer Geschichte zur nächsten switchte, entwickelte er ein erstes, rudimentäres Gefühl für Dramaturgie und Regie, beschreibt er.
Und dann, mit 14, fesselte ihn auch das Kino, sein erster Film war «Texas Chainsaw Massacre». Und man wundert sich nicht, dass einer, dessen filmische Initiation diese Schlachtplatte war, heute sagt: «In der Kreativität gibt es diese verführerische Tendenz, alles aus sich selbst heraus zu zerstören.» Wenn es darum geht, von Produzenten Geld zu kriegen, belügt er sie oft und schildert seine Projekte weniger destruktiv, als sie es dann werden.
Ansonsten ist er abergläubisch, friedlich, sagt, dass er Geld liebt und versteht und an eine bessere Zukunft glaubt: «Trotz all der dummen Leute entwickelt sich die Menschheit immer weiter. Meine Kinder gehen durch eine Welt, die viel progressiver ist und viel mehr Möglichkeiten hat als ich und meine Generation.»
Die Sache mit der Reinheit einer Idee dürfte auch für den Schweizer Cowboy schlechthin gelten, für den «Tschugger», für David Constantin also, dem das Wallis auf Lebzeiten ins Herz gemeisselt ist. Minuten vor Winding Refns Talk läuft er mir am GIFF über den Weg und schwärmt von der Sonne über Genf und sagt, dass er überhaupt nicht bereit sei für seine eigenen Auftritte, aber das ist er wahrscheinlich nie, denn der Mann ist so ganz anders als seine «Tschugger»-Figur Bax, der grossmäulige Draufgänger, dessen halsbrecherische Sprünge ins Abenteuer immer schneller sind als jeder Gedankengang.
David Constantin ist ein scheuer, allürenloser, verspielter Tüftler und Perfektionist, nie zufrieden mit seinen eigenen Antworten, immer auf der Suche nach Gründen und Zusammenhängen und dabei so genuin lieb, dass ihn jeder Kinderhort sofort engagieren würde. In Genf hat er überhaupt keine Zeit, deshalb habe ich ihn und seine Produzentin Sophie Toth schon ein paar Tage zuvor in Zürich getroffen.
Die Legendenbildung um ihn ist im Zug von «Tschugger» schwer fortgeschritten: «Leute, die behaupten, dich zu kennen und dich sehr verehren, sagen, du bist der Sohn eines Walliser Weinmillionärs und hast dein Atelier im Weinkeller deines Vaters eingerichtet», sage ich. Ein Gerücht wie aus dem «Tschugger»-Drehbuch. In Wirklichkeit besitzt die Familie Constantin ein paar Reben und der Vater ist Notar. Und David Constantin, Erfinder, Regisseur und Hauptdarsteller von «Tschugger», ist bei unserem Treffen in der Zürcher Bar 63 auch nicht mit Alkohol beschäftigt, sondern überlegt sich, ob Espresso und Mate-Tee zusammen «nicht zu aufputschend sein könnten». Bax würde sich sowas nicht überlegen.
Der Erfolg von «Tschugger» verdanke sich auch Corona, sagt Sophie Toth; das Publikum sei die konstant schlechten Nachrichten, den Grauschleier über seinem Alltag leid gewesen. Und dann kamen die Walliser. Durchgeknallt, frisch, deppert, süss. «Wir haben einen supercharmanten Hauptdarsteller, erzählen schneller, haben andere Wertvorstellungen und kommen aus der Werbung, wir denken immer stark aus der Zuschauerperspektive und haben einen sehr guten Humor», sagt Toth. Ein bisschen viel Fäkalhumor, fand SRF, als in der ersten Staffel der Drohnen-Operateur Smetterling fast im Plumpsklo ertrank.
«Wir wollten von Anfang an, dass Tschugger auch im Ausland funktioniert, mindestens in Österreich und Deutschland, wir wollten uns nie an Schweizer Produktionen messen, schliesslich schauen wir selbst am liebsten internationale Produktionen, sie sind das, was uns begleitet», sagen beide. «Fargo» sei massgebend gewesen für «Tschugger». Und «Lilyhammer». Schwarze Skurrilitäten vor weissem Schnee. Auch wenn sie dabei «auf dem Simplon im Schneesturm fast gestorben» seien. «Wenn man am meisten leidet, sieht es im Bild am besten aus», sagt Constantin.
Wieso haben sie ausgerechnet die Serien-Ästhetik der 70er-, 80er- und 90er-Jahre gewählt? Die Zeit der Schnauzträger und anderer Geschmacklosigkeiten? Weil sie ihnen gefällt. Weil sie eine Essenz des Wallis für sie einfangen. Leuchtschriften, die seit Jahrzehnten für ein Hotel, eine Beiz oder eine Garage stehen. Der visuelle Reiz der Provinz, wo man sich mehr Zeit lässt mit allem Neuen.
Auch die zweite Staffel strotzt nur so vor Übermut und Slapstick – Kindergangster, ein Verschwörungskult, vermeintliche Leichen, ein bisschen Romantik und astreines Walliser Heldentum verheddern sich in alberner bis sehr ernsthafter Action. Und natürlich quält Constantin, der Regisseur, sich selbst als Hauptdarsteller am meisten. Wieder und wieder liess er sich kopfvoran an einem Seil hängend durch Bäume schleifen. Sechs Stunden lang drehte er in einem Hallenbad eine Tom-Cruise-artige Tauchsequenz in einem Stausee. Er rauchte, bis er erbrechen musste. Bis Toth sagte, es reicht, «ich brauche ihn noch».
Wo Constantin zögert, bugsiert Toth ihn vorwärts, wo er zweifelt, tröstet sie, wo er über seine Grenzen gehen will, hält sie ihn zurück, das wird im Lauf unseres Gesprächs klar. «Blöde Frage: Seid ihr beide eigentlich ein Paar?» «Nein. Also Ja, aber Nein», sagt Toth. «Kein romantisches Paar», sagt Constantin. Gut, haben wir darüber gesprochen.
Aber zwei andere haben sich gefunden. Der Polizeichef und die Polizeisekretärin. Klammheimlich haben sich die beiden während der Dreharbeiten zur ersten Staffel in ihren zweiten Frühling aufgemacht und sind seither glücklich. Gemeinsam ist ihnen, dass sie riesige Mike-Müller-Fans sind. Und der hatte in der ersten Staffel ja einen Gastauftritt. Als Bestatter. Da können die Gefühle natürlich schon mal gemeinsam überschäumen. Und wie war das schon wieder beim Dreh der zweiten Staffel von «Fargo»? Da verliebten sich doch Kirsten Dunst und Jesse Plemons überaus herzig und bis heute glücklich ineinander. Man soll sich an seine Vorbilder halten, ästhetisch und emotional.
Auch der grösste dänische Regisseur fehlt aus gesundheitlichen Gründen, im August wurde bei Lars von Trier Parkinson diagnostiziert, seither hat er sich aus der Öffentlichkeit zurückgezogen und versucht, nicht immerzu vom grossen Zittern überwältigt zu werden. Es gehe ihm nicht schlecht, liess er während der Filmfestspiele von Venedig ausrichten, doch die Krankheit habe ihn «dümmer» gemacht.
Von Triers pathetische Filme, in denen er Frauen im ganz grossen, opernhaften Stil leiden lässt («Breaking the Waves», «Dancer in the Dark», «Dogville», «Antichrist»), sind umstritten bis fürchterlich, doch manchmal gelingt ihm etwas, das betörend schön ist – etwa «Melancholia» mit Kirsten Dunst –, und man sitzt dankbar im Kino. Dankbar für seine Fantasie und seine Bilderwelt. So auch in Genf. Denn da läuft seine neue Serie «The Kingdom Exodus», und die ist nun weder sadistisch noch pathetisch, sondern quasi der «Tschugger» in Lars von Triers Werk, eine wilde Feier der in alle Richtungen explodierenden Freude an der reinen Fiktion, die restlos alles ermöglicht.
«The Kingdom Exodus» steht natürlich nicht allein, «Kingdom Exodus» ist die Fortsetzung von «The Kingdom» («Hospital der Geister») von 1994, der gewiss irrsten Spitalserie der Welt, und inspiriert wurde diese selbstverständlich von der einzigen seriellen Währung, die zu Beginn der 90er zählte, nämlich David Lynchs «Twin Peaks». Wie bei Lynch geht es auch bei Lars von Trier um die Durchlässigkeit der Realität, um das Eindringen des Übernatürlichen, das Vermischen von Welten, denn Dänemarks technologisch fortschrittlichstes Spital ist auf einem uralten Spukgrund gebaut.
Das Sequel beginnt damit, dass eine uralte Frau zu oft die alten «The Kingdom»-DVDs gesehen hat und überzeugt ist, dass es zu einem neuen Ausbruch der Geister im Spital kommen wird. Natürlich hat sie recht. Natürlich begegnen wir auch wieder Udo Kier, der in «The Kingdom» als verkrüppeltes Baby mit einem Männerkopf zur Welt kam und jetzt als Riese in einem unterirdischen See aus seinen eigenen Tränen ertrinkt. Natürlich spielt Willem Dafoe den Teufel.
Und natürlich ist das Spitalpersonal, das eine Fehloperation um die andere durchführt, so verrückt, dass es die beste Komödie seit langem liefert. Einer der Ärzte löffelt sich im Jähzorn immer sein eigenes Auge aus und setzt es wieder ein. Ein anderer (Lars Mikkelsen) hat eine Liftphobie und klettert lieber die Aussenfassade des Spitals hoch. Alexander Skarsgard ist ein Anwalt, der stets Täter und Opfer des gleichen Falls gleichzeitig vertritt. Und Ida Engvoll, Hauptdarstellerin der Netflix-Literaturbetriebs-Groteske «Love and Anarchy», ist eine schwedische Hackerin, die im Keller des Spitals versucht, amerikanische Sicherheitsprotokolle auszutricksen, und in der Heimweh-Gruppe «Swedish Anonymous» Volvo-Felgen sammelt.
Überhaupt nichts funktioniert hier nach den Regeln des gesunden Menschenverstandes, doch alles macht seinen Sinn im Unsinn, das ganze Ensemble will hier sein Eigenartigstes und Einzigartigstes geben, es ist genau wie «Tschugger» eine absolute Herzgeburt und – da hat Nicolas Winding Refn schon recht – genau das ist es, was überlebt. Als euphorisches, beglückendes, rares Seh-Erlebnis.
«Tschugger» läuft auf Sky und Play Suisse und ab dem 18. Dezember auch auf SRF.
«Copenhagen Cowboy» startet am 5. Januar auf Netflix.
«Kingdom Exodus» soll im zweiten Quartal 2023 in ausgewählten Schweizer Kinos laufen und wird danach bei einem Streaminganbieter (eventuell MUBI) erhältlich sein.