Die Realität abseits der Kamera ist ein Puzzle aus tausend Teilen. Zwei Frauen beugen sich darüber, sie werden es heute wohl nicht mehr bewältigen. Die eine heisst Wilder. Rosa Wilder. Sie löst weit wichtigere Fälle als das Puzzle mit dem Titel «Men Working». Gerade ist sie im Jura stationiert, in Thallingen, zusammen mit ihrem Kollegen Kägi. Es gibt in der Gegend entsetzlich viele Leichen, ich frage Rosa Wilder lieber nicht, wieso, ich will mir selbst die Spannung nicht verderben, die Vorfreude auf die zweite Staffel von «Wilder».
Der goldene Schein einer Lampe fällt auf Rosa Wilder und die andere Frau, es ist ein bestürzend gemütliches Bild, ich frage: «Darf ich euch fotografieren? Ihr dürft auch nein sagen.» «Lieber nicht», sagt Rosa Wilder, und das ist okay, denn hier, über dieses Puzzle gebeugt, ist sie auch nicht Rosa Wilder, sondern die Schauspielerin Sarah Spale. Die auch nur in der Serie Berndeutsch spricht, jetzt, in einer winzigen Pause zwischen zwei Takes, redet sie in breitestem Baseldeutsch.
Kollege Kägi (Marcus Signer) wartet gegenüber, in einem kleinen, kahlen, grauen Raum, gefilmt wird dort eine jener für TV-Krimis typischen Verhörszenen. Ein Verdächtiger sitzt am Tisch, mit einer – wahrscheinlich von Kägi – blutig geschlagenen Nase.
Apropos Wienerli: Es geht auf den Mittag zu und alle haben Hunger. «Ich hab Lust auf Käse. Und Fleisch», sagt jemand vom Team. «Nein, auf ein Spiegelei mit Toastbrot!», eine andere. «Und Aromat!» – «Lachs find ich übrigens total überbewertet.» – «Wie kommst du jetzt auf Lachs?» – «Weil der vor Weihnachten überall rumliegt.»
Es ist der 54. Drehtag. Zweieinhalb Wochen im Jura stehen der Crew noch bevor. Bis knapp vor Weihnachten also. Gegen Abend wird das Polizeigebäude geleert werden, Möbel, Puzzle, unzählige Topfpflanzen, mehrere Bürogarnituren und Kreuze an den Wänden werden verschwinden, mit ihnen die Kameras, die Menschen, die Verbrechen.
Das Dorf «Thallingen» wird dann wieder von der Landkarte getilgt. Bis die zweite Staffel von «Wilder» im Fernsehen kommen wird. Nicht jetzt. Noch viel zu lange nicht. Im Januar 2020. Auf dem Sendeplatz vom «Bestatter». Regie führt wie in der ersten Staffel Pierre Monnard. Seit «Wilder 1» ist er zum zweiten Mal Vater geworden. Seine Drehbuchautoren sitzen bereits an Skizzen zu «Wilder 3».
«Wir haben quer durch den Jura gedreht, wir erlebten einen prächtigen Indian Summer, es wird sehr farbig, Pferde gibt’s auch», sagt Monnard, «kein Schnee wie beim letzten Mal, und neben unserem Hotel ist eine Metzgerei mit den fantastischsten Koteletts. Und einem Fleischautomaten davor!» Das Hotel der «Wilder»-Crew ist vierzig Kilometer von Thallingen weg.
Thallingen heisst in Wirklichkeit Undervelier und wird in einer Mischung aus Englisch und Französisch ausgesprochen, ungefähr als «Andervölië». Vielleicht, weil im Jura alles anders ist als sonst in der Schweiz. Etwas französischer, etwas fremder, widerspenstiger und vor allem, viel, viel ärmer. Kein anderer Kanton bezieht einen Finanz- und Lastenausgleich in ähnlicher Höhe. 2288 Franken pro Kopf und pro Jahr. Wenn es denn überhaupt noch Köpfe gibt. In Undervelier etwa leben nur noch gut 200 Leute.
Vor 150 Jahren, als die mit der Uhrenindustrie verbundene Eisenindustrie in der Region boomte, waren es wenigstens vier Mal mehr. Das Hotel am Platz steht leer. Die Raiffeisenfiliale ebenfalls, sie ist jetzt der «Wilder»-Polizeiposten. Das Schulhaus wurde zu einem Wohnhaus umgebaut, es gibt zu wenig Kinder im Tal.
Bausubstanz und Landschaft sind ein Traum, es gibt die schönsten alten Gehöfte, die imposante Schlucht von Pichoux, die Sorne, die in einem smaragdgrünen Weiher schier zum Stillstand kommt, eine heilige Grotte, zu der heute noch Kranke pilgern. Eine Gegend, als wär sie von David Lynch und Edgar Reitz gemeinsam erträumt worden. Irgendwo gibt es ein Café, «aber das hat nur zweimal die Woche geöffnet», sagt Monnard. Der «Wilder»-Dreh kann gut und gern als Tourismushilfe von SRF betrachtet werden.
In der Mittagspause in einer riesigen leeren Halle am Dorfrand kommt ein Bub und zeigt der Filmcrew seine Zaubertricks. Gewiss möchte er entdeckt werden. Auf dem Mittagstisch liegen Plastikbeutel mit weissen Stoffwindeln. Auf einem der Beutel steht «Kägi». Was ist das? «Lätzchen», sagt eine Frau, «wenn die Schauspieler im Kostüm Mittag essen, brauchen sie die.» Kägi, der Eigenbrödler, ist natürlich nicht da. Keine Ahnung, was er macht. In seinem silbernen Wohnmobil lunchen?
Es regnet. Im Polizeigebäude ist es kälter als draussen. «Bisch bim Mittagässe gsiii?», fragt mich Signer. «Ja, aber du nicht.» Er ist verrückt, dieser Signer. Wenn er einen von Kägis berndeutschen Drehbuch-Sätzen in den Mund nimmt, purzeln fünf verschieden modulierte Varianten wieder heraus. Und jede klingt wie Musik.
Eine Frau zupft Sarah Spales Hemd korrekt unter dem Pullover hervor. Wie Signer ist sie ganz in den Farben Grau und Bordeaux gekleidet. Auch der Verdächtige, der Verhörraum, selbst der Boden des Verhörraums sind grau-bordeaux. Pierre Monnard hat einen Farbtick. Sarah Spale sieht wieder einmal aus wie die jüngere Schwester von Charlotte Gainsbourg. Fantastisch.
Natürlich ist auch Signer ungemein attraktiv. Zudem trägt er coole neue Cowboyboots und einen hochwertigen hellgrauen Mantel. Aber Spales Gainsbourg-Gesicht ist gerade enorm fesselnd, es kündet von Kämpfen, gewiss mit dem Bösen, aber vielleicht ja auch mit der Liebe? Wenn wir sie wieder sehen in «Wilder 2» werden ein paar Jahre vergangen sein, sie war in der Zwischenzeit in den USA, hat ihre Profiler-Ausbildung gemacht, weiss weit mehr als so ein kommuner Kägi.
Es ist aber nur die Schauspielerin Manuela Biedermann, die eine Polizistin mit komplexen privaten Verstrickungen spielt. «Okay», sag ich, «Manuela, zeig mir deine Polizistinnenwelt!» Natürlich ist ihre Welt bereits in Auflösung begriffen, aber ein paar Dinge sind noch da. Die Hobbys der Polizei von Thallingen sind Bonsaibäumchen, Selfies auf Verkehrskreiseln, Pferdekalender und Weltkarten. Täusch ich mich oder ist das alles ein bisschen «Fargo»-Style? Ist es, Manuela sieht das genau so.
So ein Drehtag besteht aus viel Warten, vielen Wiederholungen und kurzen Momenten irrer Konzentration. Von allen Künsten ist der Filmdreh wahrscheinlich die langweiligste und zugleich nervenaufreibendste. An Tag Nummer 54 sind alle schon sehr müde.
Er freut sich auf Weihnachten. Er wird sie mit dem Gefühl begehen, einen Riesenbrocken Arbeit hinter sich gebracht zu haben. Bevor er sich dann hinter die Postproduktion macht. Und nach dieser auch schon an die Verfilmung des Zürcher Drogen-Elend-Bestsellers «Platzspitzbaby». Und danach vielleicht an «Wilder 3»? Bitte? Okay, es ist noch sehr früh, um so weit in die Zukunft zu denken.
Zuerst müssen jetzt all die Morde aus dem Jura geklärt werden. «I hase gopferdori nid umbraacht!», schreit der Verdächtige mit der blutig geschlagenen Nase durch die Wand. Und cut.