Zwischen Heilung und Zwang: Die Vermessung der Psyche in der Schweiz
Es hilft wahrscheinlich nicht, wenn man, kaum aus der Haustür getreten, schon die Birne am nächsten Berg anstösst. Für einen weiten Geist braucht es auch einen weiten Blick, der hat es in unserem von den Alpen zerfalteten Land eher schwierig, ausser natürlich man steht auf dem Gipfel und schaut sich die ganze Sache von oben an. Dort könnte der Einzelne durchaus in der Lage sein, seine seelische Entwicklung voranzutreiben und seine «nationale Präjudiz» zu überwinden.
Aber in den Tälern, da bleibt's eng. So sieht das zumindest der Thurgauer Seelenforscher C. G. Jung (1875–1961), um den herum die neue Ausstellung im Landesmuseum Zürich modelliert worden ist:
«Aus der Erdgebundenheit des Schweizers gehen sozusagen alle seine guten und schlechten Eigenschaften hervor, die Bodenständigkeit, die Beschränktheit, die Ungeistigkeit, der Sparsinn, die Gediegenheit, der Eigensinn, die Ablehnung des Fremden, das ärgerliche Schwyzerdütsch und die Unbekümmertheit oder Neutralität – politisch ausgedrückt. 
Die Schweiz besteht aus vielen Tälern, Vertiefungen, der Erdrinde, in denen die Ansiedlungen der Menschen eingebettet sind. Nirgends sind unermesssliche Ebenen, in denen es gleichgültig ist, wo man wohnt, wo es keine Sonnen- und Schattenlagen gibt, nirgends dehnen sich weite Küsten, an die das Weltmeer mit seiner Kunde ferner Länder brandet. Im Rückgrat des Kontinentes, in die Erde eingebohrt, lebt troglodytisch [höhlenbewohnend, Anm. der Redaktion] der Alpenbewohner, umgeben von mächtigen Völkern, denen die weite Welt gehört, die sich in Kolonien ausdehnen oder durch die Schätze ihres Bodens sich bereichern können. Seine Seele klammert sich an das, was er hat, denn alles Andere haben die Andern, die Mächtigen. Unter keinen Umständen will er sich das Seine nehmen lassen. Sein Volk ist klein und sein Besitz beschränkt. Hat er ihn verloren, woraus soll er ihn ersetzen?»
C. G. Jung: «Die Jungfrau als Schutzpatronin der Schweiz», 1928.
bild: Familienarchiv Jung, Küsnacht
164 Jahre zuvor hatte sich bereits der Genfer Philosoph Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) in den düsteren Wäldern und auf den stillen Seen der Schweiz herumgetrieben. Auch er suchte. Suchte unnachgiebig nach dem Naturzustand, einer von Zivilisation und Zwängen, von Staatsgebilden und Religion verschont gebliebenen Menschheit – und stiess dabei auf den Urgrund seiner eigenen Seele. Von den Wellen des Bielersees sanft in seine Kindheit zurückgewogen, schreibt er in seinen «Confessions» (1764–70) ungeschönt von seinen exhibitionistischen Kindheitsfreuden («Mein albernes Vergnügen, ihn vor ihren Augen zu wölben») und seiner schambesetzten Lust am Schmerz, wenn ihn Fräulein Lambercier zu züchtigen pflegte. Eine Unerhörtheit für seine Zeit – und wegweisend nicht nur für die moderne Autobiographie, sondern ebenso für die Tiefenpsychologie.
Während also Jean-Jacques Rousseau auf der Petersinsel aus der ihn umgebenden Landschaft seine Seele herausformt, versucht Johann Caspar Lavater (1741–1801) in Zürich, die Wesensart eines Menschen von dessen Gesicht abzuleiten.
Als Geistlicher war ihm das menschliche Antlitz der Spiegel Gottes und der würdigste Gegenstand der Beobachtung überhaupt. Also machte er sich daran, die Buchstaben des göttlichen Alphabets zu entziffern, indem er abenteuerliche Parallelverschiebungen der Äusserlichkeiten seiner Versuchspersonen in deren Innerlichkeit vornahm.
bild: museum für medizinischhistorische bücher muri
Und natürlich spürte er so auch dem Wahnsinn nach, der «verschobenen Vernunft», wie er ihn nannte, die sich im aus der Harmonie gefallenen Gesicht zeige, durch verzogene Linien, starre oder wilde Blicke.
Solcherlei aus dem Gleichgewicht geratene Seelen wurden nun in die psychiatrischen Heil- und Pflegeanstalten eingeliefert, die ab Mitte des 19. Jahrhunderts überall in der Schweiz entstehen. Dort stellte man sie ruhig. Mit Eisbädern und Zwangsjacken.
Es war eine Zeit, in der Jungs, die masturbierten, als verdorben galten und Glück hatten, wenn sie von jenem Akt der Selbstbeschmutzung bloss Pickel statt Pocken bekamen. Auch Gehirnerweichung, Wahnsinn, Epilepsie, Impotenz, Sterilität, Krebs und Lepra könnten folgen, wenn nicht sogar der Onanist endlich vom Tode selbst heimgesucht wird.
Frauen mit einer eigenständigen Sexualität galten als ebenso unzüchtig wie krank – die Natur der Frau, so verkündeten die Aufklärer im Tenor – sei passiv, geschaffen allein, dem Mann zu dienen.
Eine unheilvolle Mixtur zwischen christlicher Leibesfeindlichkeit, bürgerlich-patriarchaler Sittlichkeit und autoritärer Unterdrückung führte zu einer Unmenge an Tabusiertem und Verdrängtem, im Unterbewusstsein brodelten Wünsche und Begierden, die nun einer gewillt war, gnadenlos an die Oberfläche zu zerren: Der Wiener «Deppendoktor» Sigmund Freud (1856–1939).
Im neuen Jahrhundert sollten die Menschen reden, nicht zum Schweigen gebracht werden. Ihre geistige Verwirrungen, ihre Neurosen und Zwänge sollten wissenschaftlich gedeutet, nicht moralisch verurteilt werden.
Im neuen Jahrhundert sollten auch ihre Träume sprechen. In ihnen manifestierten sich laut Freud verdrängte und durch die Traumsprache entstellte Wünsche, die es zu übersetzen gelte; der Traum sei der Königsweg zur Kenntnis des Unbewussten.
1887 träumt auch der 12-jährige C. G. Jung etwas. Vor dem Basler Münster stehend, fantasiert der Pfarrerssohn etwas zusammen, das seinem Leben eine ganz andere Richtung geben wird: Es ist ein Hybrid aus Tagtraum und Zwangsgedanken, den er – dessen schrecklich blasphemischen Inhalt ahnend – erst tagelang nicht zulässt, bis er sich schliesslich dem sich aufdrängenden Bild ergibt:
«Vor meinen Augen stand das schöne Münster, darüber der blaue Himmel, Gott sitzt auf goldenem Thron, hoch über der Welt, und unter dem Thron fällt ein ungeheures Exkrement auf das neue bunte Kirchendach, zerschmettert es und bricht die Kirchenwände auseinander. – Das war es also. Ich spürte ungeheure Erleichterung und unbeschreibliche Erlösung. Anstelle der erwarteten Verdammnis war Gnade über mich gekommen [...] Das gab mir das Gefühl, eine Erleuchtung erlebt zu haben.»
Aus Aniela Jaffés «Erinnerungen, Träume, Gedanken von CG Jung», 1962
Jener göttliche Stuhlgang hat ihn befreit. Fortan wird Jung einen eigenen Weg einschlagen – und frei werden im Denken. Er wird versuchen, die Seele empirisch zu erfassen und zu verstehen. Wird Kant, Schopenhauer, Nietzsche und Freud lesen, sich antiken Denkern, der Gnosis, der Alchemie, der Tradition des Christentums und verschiedenster Mythen aus aller Welt widmen, um daraus eine Karte der menschlichen Psyche zu formen.
Er studiert Medizin, doch der Körper allein ist ihm, der sich für das Okkulte und Verborgene interessiert, zu wenig, er wechselt in die Psychiatrie, wo er sich als Assistent von Eugen Bleuler (1857–1939) im Bürghölzli in Zürich wiederfindet. Der Direktor der Irrenanstalt ist der erste Hochschulprofessor, der Sigmund Freuds von vielen angefeindeten Psychoanalyse in einem wissenschaftlichen und klinischen Rahmen ausprobiert. Und Jung macht mit.
Eine 18-jährige Russin mit dem Befund einer «hochgradigen Hysterie» wird seine erste Versuchsperson. Es ist Sabina Spielrein (1885–1942), die später gemeinsam mit Jean Piaget (1896–1980) die Kinderpsychologie revolutionieren wird. Sie ist eine der rund 10 Russinnen, die in der jungen Disziplin der Psychoanalyse promovieren und ihr damit internationales Ansehen verschaffen.
1906 aber ist sie Jungs Pflegling, und bald auch seine Geliebte. Er ist ihr Mentor, ihr Arzt und Vater, zerrt und rüttelt schonungslos an ihrer Seele, auf dass die verschütteten Erinnerungen herauskommen; die Sache mit dem Vater, der ihren Bruder auf den nackten Hintern schlägt, ihre Erregung dabei, ihre zweiwöchigen Anstrengungen, mit der Ferse gegen den Anus zu pressen und dabei zu defäkieren. Jung schreibt Freud im Oktober 1906 davon, der findet die Geschichte «hübsch», und sieht darin einen typischen Fall von «infantiler Fixierung der Libido auf den Vater» und «analem Autoerotismus».
Die beiden Männer treffen sich ein Jahr später zum ersten Mal in Wien. 13 Stunden lang sitzen sie zusammen in Freuds Arbeitszimmer – danach ist sich Freud sicher, seinen Erben gefunden zu haben. C. G. Jung soll sein Vermächtnis weitertragen, als Schweizer sei er besser als seine jüdischen Freunde geeignet, «der neuen Lehre Freunde zu erwerben.»
Doch in den nächsten Jahren driften die beiden Psychoanalytiker auseinander. Jung will nicht hinter jeder Neurose den verdrängten Sexualtrieb finden, er vermutet mehr, auch etwas, das die Menschen im Innersten zusammenhält, findet es aber nicht, und stürzt, von Visionen und Halluzinationen geplagt, in ein tiefes Loch.
Und wieder liess er die Bilder zu, die ihn bedrängten, zeichnete und übersetzte sie. Stieg hinab in die Untiefen der eigenen Seele, um Zwiesprache zu halten mit den inneren Gestalten, die ihm da im Dunkeln begegneten.
Mittels Aktiver Imagination, wie er die Methode später benannte, fand Jung aus seiner Krise heraus.
Das, was den Menschen für ihn ausmacht, ist das Schöpferische, die Vorstellungskraft, mit der wir uns in die Vergangenheit projizieren und in die Zukunft träumen können, in ferne Länder wandern oder eben Zugang ins eigene Innere bekommen.
Ein Inneres, das für Jung in allen Menschen biologisch durch neuronale Muster und psychische Strukturen angelegt ist; ein kollektives Unbewusstes, eine Art Menschheitserbe, das uns alle verbindet. Die darin wiederkehrenden Urbilder und Vorstellungen nennt er Archetypen; ihnen jagt er nach in Mythen und Märchen, in Literatur und Kunst – und findet den Helden, den Weisen, die Mutter und das Kind.
Als 1933 Freuds Schriften im Feuer der Nationalsozialisten brennen, wird Jung zum Präsident der deutschen Allgemeinen Ärztlichen Gesellschaft für Psychologie. Und als solcher schreibt er 1934, dass Freud «die germanische Seele nicht kannte», «ihren tiefen Grund, der alles andere ist als der Kehrichtkübel unerfüllbarer Kinderwünsche und unerledigter Familienressentiments.» Und dass das arische Unbewusste ein höheres Potential habe als das jüdische.
Es ist ein unschönes Zusammenspiel seiner persönlichen Abneigung gegen Freuds Theorie, die seine eigene zu lange in den Schatten gestellt hatte mit antisemitischem NS-Gedankengut, das er einerseits der Karriere Willen geteilt haben mag, das sich andererseits aber auch gut mit seinem Archetypus-Denken vereinbaren liess: Ein deutschgeprägtes Unterbewusstsein, das den Wotan-Archetyp hervorbringt, den urdeutschen Kraftgott, der nun in der Welt zu wüten beginnt.
Vor ihm schützt Jung nun auch viele seiner jüdischen Freundinnen und Freunde und sorgt dafür, dass sie über die Schweiz ins Exil flüchten können. 1939 tritt er von seinem Amt zurück, er kann es nicht länger mit seiner Einstellung vereinbaren, woraufhin seine Schriften in Deutschland verboten und in Frankreich verbrannt werden.
Freud und Jung hatten beide das Zuhören in den Mittelpunkt gestellt: Auf der Couch liegend sollte der vom Leben bedrängte Mensch in jeglicher Form ungehemmt und frei sprechen können; Assoziatives und Träumerisches, Unerwünschtes und Geheimes, Verdrängtes und Schmerzliches, alles sollte zu Wort kommen – und damit zu Realität werden. Diese Form therapeutischer Beziehung, die «liebevolle Versenkung», wie Freud sie selbst genannt hatte, war das radikal Neue und Vielversprechende an ihrer Arbeit.
Doch die Couch stand nicht in der gemeinen psychiatrischen Anstalt. Solcherlei Institutionen waren vielmehr Teil des Disziplinierungsapparates des Staates, mit dem er die «moralisch Defekten» unschädlich zu machen pflegte. Der Alltag dort war von Zwang und Kontrolle bestimmt.
Die Geschichte der Psychiatrie ist immer auch die Geschichte von Ausschluss. Was gilt in der sie betreibenden Gesellschaft als krank und abnormal? Und wie soll man jene Schädlichkeiten behandeln?
Beide Fragen führen in düstere Ecken, auch in der Schweiz, wo sich der geistig und seelisch erschöpfte Schriftsteller Robert Walser (1878–1956) gegen seinen Willen in der Heilanstalt Herisau im Kanton Appenzell wiederfand, um 1956 bei einem winterlichen Spaziergang einsam im Schnee zu sterben. Wo der morphiumsüchtige Friedrich Glauser (1896–1938) wegen seines liederlichen Lebenswandels 1920 dauerhaft entmündigt wurde und in seinem Roman «Matto regiert» (1936) den ganzen Wahnsinn beschreibt, der nicht nur in der Anstalt Münsingen waltet, sondern überhaupt in der Welt.
Auch in der von Annemarie Schwarzenbach (1908–1942), der Schweizer Reiseschriftstellerin und Fotografin, die aufgrund ihrer Liebe zu Frauen und ihres Aussenseitertums in Prangins mit Elektroschocktherapien, Insulinkuren und künstlichem Koma von ihrer Verwirrung geheilt werden sollte und kurz darauf an den Folgen jener Behandlungen starb.
Allen diagnostizierte man Schizophrenie, die Sammelkrankheit jener Zeit, die Angstzustände und Depressionen, Identitätskonflikte und Drogenabhängigkeit genauso umfasste wie soziale Unangepasstheit in Form künstlerischer Kreativität, politischem Ausscheren oder Homosexualität.
Das «Audienzzimmer des Doktor Binswanger» der Schweizer Künstlerin Heidi Bucher (1926–1993) schwebt als in Hautfetzen hängendes Dach bedrohlich über den Köpfen der Besucher der Ausstellung. Es sind die mit Latex abgezogenen Therapiewände der Klinik Bellevue in Kreuzlingen.
Es sind Wände der Trennung, der Abschirmung von Menschen, die als nicht gesellschaftstauglich galten.
Dahinter hat die Ausstellung das Heute platziert. Stimmen, die darüber sprechen, was zu tun ist, wenn der Mensch der Gegenwart nicht mehr zurechtkommt in der Welt, wenn er sich verliert in den Untiefen aktueller Seelenlandschaften, die sich inzwischen ins Digitale erweitert haben.
Die von Stefan Zweifel kuratierte Ausstellung «Seelenlandschaften: C. G. Jung und die Entdeckung der Psyche in der Schweiz» ist vom 17. Oktober 2025 bis zum 15. Februar 2026 im Landesmuseum Zürich zu bestaunen. Die vielfältigen Veranstaltungen rund ums Thema findet ihr hier.


