Roger packte nur ein paar wenige Sachen zusammen, lange wollte er nicht bei seiner Mutter bleiben. Eigentlich wollte er überhaupt nicht zu ihr, aber sein Bruder hatte ihn quasi dazu genötigt. Schliesslich habe Roger sie während der ganzen Beerdigungssause nicht unterstützt, alles habe Marcel organisieren und regeln müssen, und jetzt, wo es vorbei war, müsse er schleunigst mit seiner Familie zurück nach Hause fahren.
Roger hatte keine Familie, mit der er zurückfahren konnte. Da war nur Esther, und an ihrer Tür klingelte er nun.
Sie erschien in ihrem geblümten Morgenmantel, den sie immer trug, wenn sie nicht vorhatte, das Haus zu verlassen. Die Ärmelbündchen verrieten sein hohes Alter, da war er vom vielen Tragen ganz dünn geschabt worden. Und seine einst roten und pinken Rosen schrien nicht mehr, müde und abgeblasst zogen sie sich über den lumpig gewordenen Stoff, dem einzig der Bindegürtel noch ein bisschen Form zu geben vermochte.
«Hallo», sagte Roger, «da bin ich.»
«Das sehe ich», erwiderte seine Mutter und trat zur Seite, um ihm Platz zu machen.
«Und ich sehe deinen Morgenmantel.»
«Das ist jetzt mein Trauermantel», meinte sie, hob ihn dabei mit beiden Händen ein wenig an und machte einen Knicks.
«Aha», meinte Roger und dachte daran, wie sehr sein Vater diesen Mantel verabscheut hatte.
«Man ehrt die Toten am besten, indem man sein Leben exakt so weiterlebt wie davor.»
Roger nickte. Er war es sich gewohnt, dass seine Mutter seine Gedanken beantwortete.
Durch die ermutigenden Blicke, mit denen sie ihn auf dem Weg ins Wohnzimmer immer wieder bedachte, fühlte er sich übertrieben bevormundet, schliesslich war er kein Fremder in diesem Haus, der sich darin hätte verirren können.
Doch als Roger angekommen war, blieb er abrupt stehen. Irgendwas hatte sich tatsächlich verändert. Er grub seine Zehen in den grünen Berberteppich, als wollte er den vertrauten Herzschlag des Hauses spüren. Er fand ihn nicht. Alles schien wie immer, das bis zur Decke reichende Bücherregal, das den Schwedenofen zu beiden Seiten einrahmte, der Fernseher, wacklig thronend auf seinem Rollmöbel, und davor Josefs Sessel mit dem dazugehörigen Ottomanen, dessen Kauf Esther für so lange Zeit zu verhindern wusste. Sie hatte seinen Vorträgen über korrekte vs. rückenschädigende Sitzpositionen lange standgehalten. Doch der allabendliche rhetorische Einwurf: «Wohin bloss mit meinen Füssen?», den er danach immer noch in Lateinisch, seiner Lieblingssprache, zu wiederholen pflegte – «Ubi pedes meos ponerem?» –, höhlte mit jedem Mal ihren Widerstand weiter aus, bis ihr Nein keine Kraft mehr hatte und schliesslich einem stummen Nicken wich. Das war es nicht wert. Lieber 2000 Franken für den Frieden zahlen. Für die lateinfreien Abende, die da noch kommen mochten.
Irgendwas war anders. Im Untergrund. Unter all den gewohnten Dingen, die ihn umgaben.
«Setz dich», sagte Esther. Und da war es.
Ein neuer Ton. Ein herrischer Ton. Einer, der sagte: «Jetzt bin ich hier die Chefin. Und das ist mein Reich.»
Es stimmte. Auch das Haus hatte seinen einstigen Besitzer verloren, gehörte jetzt ganz Rogers Mutter. Und selbst wenn Josefs gesamte Habe noch immer drin stand, war es nicht mehr das Haus, in dem er gross geworden war.
Esther stellte das Tablett mit den Kaffeetassen auf den Glastisch. Dann ging sie hinüber zum Bücherregal. Und wieder kam sie in diesen Führungsmodus, als befänden sie sich in einem Museum, wo sie die Gegenstände ihres verstorbenen Mannes einem interessierten Publikum vorstellte.
«Hier ist das gute Stück», sagte sie und ihre Hand flog in Richtung Pfeife, vollführte währenddessen eine halbe Drehung, sodass sie mit der Innenfläche gegen oben vor dem Objekt zum Stillstand kam. Ein Weilchen hing sie noch da, präsentierend, abwartend. Doch weil Rogers Begeisterung ausblieb, schwand der anfängliche Enthusiasmus und die Hand stürzte in die Tiefe, um dann enttäuscht an einem erschlafften Arm herunterzubaumeln.
Die Pfeife stand, wo sie immer gestanden hatte, wenn sie nicht aus Josef Fässlers Mund ragte: in ihrem schlichten, elegant geschwungenen Ständer aus Palisanderholz.
«Ich wollte sie behalten», sagte Esther jetzt und klang nicht mehr wütend wie an der Beerdigung. «Als Andenken», fügte sie fast entschuldigend hinzu. Roger nickte.
Er verstand seine Mutter. Und wo die Pfeife am Ende besser aufgehoben wäre, ob in Josefs Grab oder im Museum von Esther, konnte er selbst nicht genau sagen.
Er nahm sie vom Regal und hielt sie sich unter die Nase. Es roch abgestanden. Er betrachtete sie ein wenig genauer, dann sah er, dass sich im Pfeifenkopf noch Reste verbrannten Tabaks befanden. Warum hatte Josef sie nicht geputzt? Er war doch immer so gründlich, was die Pfeifenhygiene betraf.
«Da hat's noch Tabak drin», sagte er und hielt die Pfeife seiner Mutter hin.
«Ja», begann sie zögernd, «ich konnte sie noch nicht reinigen.»
«Warum du?», hakte Roger verwirrt nach.
«Weil ...» Sie sprach nicht weiter.
Roger sah sie an. «Ist er ...?»
«Ja», antwortete sie, den Blick auf die Pfeife gerichtet, die Roger ihr noch immer hinhielt.
«Wo genau?»
Sie zeigte auf den Lounge Chair. «Er fühlte sich nicht gut an dem Tag», erzählte Esther. «Ich hab ihm Risi Bisi gemacht, aber es half nicht. Das Herz. Du weisst ja, wie schwach es war.»
«Ja», sagte Roger.
«Ihm war schwindelig, dennoch wollte er auf seine Pfeife nicht verzichten. Trotzig füllte er sie mit Tabak und steckte sie an. Und dann auf einmal sackte er nach hinten, die Pfeife fiel auf den Teppich und ...» Esther hielt inne.
Roger fand den Brandfleck, der sich nur ein kleines Stück vom Sessel entfernt in die Schafwolle gefressen hatte. Er kniete nieder und strich mit den Fingern über die versengte Stelle. Dieses kleine braune Löchlein war also das Letzte, was sein Vater hier auf Erden hinterlassen hatte.
«Der schöne Berber», sagte seine Mutter traurig. Dann ging sie hinaus in den Garten.
Rogers Kaffee war inzwischen kalt geworden. Und als er ihn in den Ausguss kippte, sah er vom Küchenfenster aus, wie Esther mit dem Spaten versuchte, ein kleines Bäumchen auszugraben. Sie schien Mühe zu haben, also ging er raus, um ihr zu helfen.
«Gib mir das Ding mal», sagte er, hinter ihr stehend. Esther zuckte zusammen. Sie hatte ihren Sohn nicht kommen hören. «Ich schaff das schon», meinte sie, ohne sich umzudrehen.
«Was machst du da eigentlich?»
«Das siehst du doch, ich grabe die Eibe aus.»
«Warum?»
«Weil sie der Schutzbaum der Toten ist. Die Germanen wussten das. Damit wehrt man böse Geister und Dämonen ab und erlangt Ewigkeit. Ich werde sie auf Josefs Grab pflanzen.»
Esther, des Grabens müde, ging nun dazu über, ächzend am Stamm zu zerren, so lange, bis die Eibe schliesslich nachgab und sie selbst ruckartig ins Beet plumpste. Die Derbheit, die sie dabei hatte walten lassen, hatte das Wurzelwerk zu grossen Teilen zerstört. Wie zur Nutzlosigkeit verstümmelte Stümpfe ragten die zertrennten Lebensadern aus der Erde und Roger fragte sich, ob dieses Bäumchen wohl noch imstande war, böse Geister und Dämonen abzuwehren, geschweige denn, Ewigkeit zu spenden.
«So», sagte seine Mutter, nachdem sie sich wieder aufgerichtet und die zerzauste Eibe neben sich auf den Rasen gelegt hatte, «nachher gehen wir aufs Grab.» Sie verschwand im Haus. Abermals durchs Küchenfenster sah er, wie sie vor dem Spülbecken auftauchte. Sie drehte den Wasserhahn auf und begann, sich die Hände zu waschen. Es war ein seltsamer Anblick, denn Esther Fässler war keine Frau, die sich im Händewaschen hervortat. Sie dreckig zu machen, das war mehr ihr Ding. Unter ihren Fingernägeln sammelten sich für gewöhnlich die Reste ihres Tagwerks, schwarzrandige Beweise für ihr geschäftiges Tun, Teig kneten, Unkraut jäten, Hüte filzen. Sie war immer stolz auf ihre zerfurchten Arbeiterinnenhände gewesen, nun zu sehen, wie seine Mutter sie unter dem Wasserstrahl regelrecht reinbürstete, war neu für Roger.
Es lag etwas Eckiges, fast Roboterhaftes in ihren Bewegungen, und als sie zu ihm hochsah, wirkte selbst ihr Grinsen künstlich.
«Die Eibe ist hochgiftig, da muss man aufpassen», beantwortete sie einmal mehr die Gedanken ihres Sohnes, als dieser sich wieder ins Wohnzimmer gesetzt hatte. «Die Pferde sind früher reihenweise gestorben, weil sie daran geknabbert haben.»
«Und warum willst ...», fing Roger an, aber seine Mutter führte ihren Vortrag unbeirrt fort: «Ihr Holz war sehr begehrt. Man hat daraus Bögen gefertigt, selbst Ötzi, du weisst schon, der Gletschertyp, hat so einen gehabt. Nicht umsonst wurde die Eibe der ‹Baum des Todes› genannt.»
«Schön ... Und so was willst du jetzt Vater aufs Grab pflanzen?»
«Ach, Roger, wann verstehst du es endlich. Der Tod ist nicht das Ende. Er ist die Voraussetzung für die Ewigkeit.»
Roger gab auf. Den Glaubenssätzen seiner Mutter war nicht beizukommen. Sie hatte sie sich vor langer Zeit in die Seele geritzt, so wie die Germanen ihre Runen in Stein. Er wusste nicht genau, welcher Religion sie anhing, es war ein Flickwerk aus verschiedenen Weltanschauungen, es war Kräuterwissen gepaart mit Spiritismus und der Suche nach Erleuchtung, etwas wie Druiden-Esoterik, die sich grundsätzlich zur Natur bekannte und nicht in Linien, sondern allein in Kreisen dachte. Jegliche Arten von Kreisen schienen dabei wesentlich, magische Steinkreise im Garten, Energiekreise im Körper, Kreise in Form von antiken Knochenamuletten sowie Sand-Mandalas. Und nun wohl auch Todesbäume, die jenen ewigen Kreislauf des Lebens symbolisierten.
«Vater war katholisch», meinte Roger.
«Stimmt, aber da gibt's die Ewigkeit nur für die Guten», antwortete seine Mutter.
«Du denkst, es reicht ihm nicht für den Himmel?»
«Wer weiss. Doppelt hält auf jeden Fall besser», sagte sie bestimmt und lud die Eibe ins Auto. Roger setzte sich auf den Beifahrersitz und sie fuhren wortlos zum Friedhof.