Wissen
Leben

So unterschiedlich sind die ADHS-Diagnosen in den Kantonen

Nicht nur Kinder sind von ADHS betroffen.
Nicht nur Kinder sind von ADHS betroffen.bild: keystone

Unterschiede bei ADHS-Diagnosen sind frappant – so sieht es in deinem Kanton aus

ADHS-Medikamente werden in der Schweiz immer häufiger auch Erwachsenen verschrieben. Doch die Unterschiede zwischen den Kantonen sind erstaunlich gross.
03.08.2025, 13:0403.08.2025, 13:04
Stephanie Schnydrig / ch media
Mehr «Wissen»

Kaum eine Diagnose wird derart kontrovers diskutiert wie die Aufmerksamkeits-Defizit-Störung, kurz ADHS. Für die einen ist eine Diagnose Erklärung und Erleichterung, für die anderen eine Modediagnose.

TV-Koch Jamie Oliver soll ADHS haben, ebenso Popsängerin Taylor Swift oder die Tennisspielerin Serena Williams. Sogar Leonardo da Vinci wird postum als Betroffener gehandelt.

Lange galt ADHS als typische Kinderkrankheit. Die Symptome – Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität, Impulsivität – würden sich auswachsen, so die Überzeugung bis noch vor einigen Jahren. «Heute weiss man: Bei bis zu 70 Prozent der Betroffenen bleiben manche Symptome auch im Erwachsenenalter bestehen», sagt Undine Lang, Klinikdirektorin der Klinik für Erwachsene an den Universitären Psychiatrischen Kliniken in Basel.

Bleibt eine ADHS im Erwachsenenalter unbehandelt, kann das erhebliche Folgen für das Berufs- und Privatleben haben. So besteht ein grösseres Risiko, Unfälle im Strassenverkehr zu verursachen. Auch die Wahrscheinlichkeit, im Laufe des Lebens an psychischen Erkrankungen zu leiden, ist deutlich erhöht.

Tessin sieht keine Unterversorgung

Je stärker das Thema ADHS bei Erwachsenen ins öffentliche Bewusstsein rückte, desto grösser wurde die Nachfrage nach Diagnostik und Therapie.

So hat auch die Verschreibung von ADHS-Medikamenten an Erwachsene stark zugenommen: In den letzten zehn Jahren ist sie schweizweit um den Faktor 2,5 gestiegen. Das heisst: Wurden 2015 noch 2,3 Tagesdosen pro 1000 Erwachsene abgegeben, waren es 2023 schon 5,8.

Chaos im Kopf: ein weitverbreitetes Gefühl bei Personen mit ADHS.
Chaos im Kopf: ein weitverbreitetes Gefühl bei Personen mit ADHS.bild: getty

Auffällig ist, wie stark die kantonalen Unterschiede sind: Laut dem Versorgungsatlas des Schweizerischen Gesundheitsobservatoriums ist Basel-Stadt mit 9,1 Tagesdosen pro 1000 Erwachsene der Spitzenreiter und weist siebenmal mehr Verschreibungen auf als das Schlusslicht Tessin mit 1,3 Dosen.

Da stellt sich die Frage: Wird im Tessin massiv zu wenig oder andernorts zu viel behandelt?

Die Antwort ist komplex. Zwar wird geschätzt, dass zwei bis drei Prozent der Erwachsenen an ADHS leiden. Doch ob sie sich in Behandlung begeben, ist von verschiedenen Faktoren abhängig.

Der Tessiner Kantonsarzt Giorgio Merlani verweist darauf, dass die niedrige Verschreibungshäufigkeit von Medikamenten gegen ADHS im Kanton Tessin eine bekannte Tatsache sei.

Er hält fest, dass das Nord-Süd-Gefälle auch auf europäischer Ebene zu finden sei: Die nordeuropäischen Länder weisen tendenziell deutlich höhere Verschreibungsraten auf als die südlichen. «Für den Kanton Tessin gibt es Analysen zufolge jedenfalls keine Hinweise auf eine klinisch nicht gerechtfertigte Unterversorgung», sagt Merlani.

Interessanterweise sieht auch Basel-Stadt keinen Grund zur Beunruhigung. Das Gesundheitsdepartement hält fest: «Offenbar sehen die im Kanton Basel-Stadt ansässigen Kliniken und Ärztinnen und Ärzte den entsprechenden Bedarf.»

Der Kanton Zug, auf Platz drei der Rangliste, verweist auf eine vergleichbare Höhe an Verschreibungen wie die Nachbarkantone Zürich und Aargau. «Unseres Erachtens ergibt sich daraus keine besondere Auffälligkeit.»

Weniger Stigmatisierung in Städten

Dass ADHS in gewissen Kantonen häufiger diagnostiziert wird als in anderen, erstaunt die Psychiaterin Undine Lang nicht. So sei zum Beispiel in städtischen Gebieten die Stigmatisierung geringer, was den Zugang zur Psychiatrie erleichtere. «In Basel etwa ist die Offenheit gross, sich Hilfe zu holen.»

Gleichzeitig seien in Städten mehr Risikofaktoren vorhanden: Migration, Einsamkeit, hoher Leistungsdruck. Epidemiologische Studien zeigen, dass psychische Erkrankungen in Städten wie Genf oder Basel häufiger sind – ADHS bildet da keine Ausnahme.

Auch im Tessin scheint die Kultur eine Rolle zu spielen. Dort herrscht laut Fachleuten eine grössere Toleranz gegenüber typischem ADHS-Verhalten.

Das schlägt sich in tieferen Verschreibungsraten nieder – obwohl laut dem jüngsten Bericht des Bundes zur psychischen Gesundheit 6,9 Prozent der Tessiner Bevölkerung von ADHS-Symptomen berichten. Zum Vergleich: In der Deutschschweiz sind es fünf Prozent.

Ob Symptome zu einer Diagnose führen, hängt also auch davon ab, ob die Betroffenen Hilfe suchen. «In der Regel kommen Patientinnen und Patienten mit einem konkreten Verdacht zu uns, wir stellen die Diagnose nur nach einer standardisierten Abklärung», sagt Undine Lang.

Aber nicht jede Diagnose mündet in einer medikamentösen Behandlung. Zwar gehören ADHS-Medikamente zu den wirksamsten in der Psychiatrie, wie Lang betont.

Aber auch Verhaltenstherapie kann helfen, vor allem bei milderen Verläufen. Entscheidend sei der Leidensdruck, sagt Lang – und der wiederum hängt stark von den Lebensumständen ab, etwa von beruflichen oder familiären Anforderungen.

Lohnt sich eine Behandlung oder nicht?

Die Abgabe von ADHS-Medikamenten steht exemplarisch für viele medizinische Behandlungen in der Schweiz, bei denen sich zwischen den Regionen erhebliche Unterschiede zeigen.

Genau diesen Unterschieden geht der Mediziner und Epidemiologe Stefan Essig des Luzerner Forschungsinstituts «Interface Politikstudien» in einem Projekt gemeinsam mit Kantonen und Gesundheitsfachpersonen nach. Das Ziel: herausfinden, wie es zu diesen Unterschieden kommt – und ob sie medizinisch gerechtfertigt sind.

«Wir stehen bei der Aufklärung der Ursachen, die hinter den Unterschieden stecken, in der Schweiz noch ziemlich am Anfang», sagt Essig. «Und wir wissen nicht gut über die Qualität oder Notwendigkeit der Behandlungen Bescheid.» Dabei wären genau diese Informationen entscheidend, um beurteilen zu können, ob eine Unter- oder Überversorgung vorliegt. «Man muss wissen: Lohnt es sich?», sagt Essig.

Nur wenn sich durch eine Behandlung tatsächlich ein gesundheitlicher Nutzen zeigt und die Präferenzen der Patientinnen und Patienten berücksichtigt werden, kann man von einer angemessenen Versorgung sprechen.

Bislang, sagt Essig, habe es nur vereinzelt Bestrebungen gegeben, diese Zusammenhänge genauer zu untersuchen. Nun aber wächst der Druck. «Die Ansprüche an ein gerechtes und effizientes Gesundheitssystem steigen – und mit ihnen der Wille, genauer hinzuschauen.»

DANKE FÜR DIE ♥
Würdest du gerne watson und unseren Journalismus unterstützen? Mehr erfahren
(Du wirst umgeleitet, um die Zahlung abzuschliessen.)
5 CHF
15 CHF
25 CHF
Anderer
Oder unterstütze uns per Banküberweisung.
19 Gesundheitstipps vom schlechtesten Arzt der Welt
1 / 21
19 Gesundheitstipps vom schlechtesten Arzt der Welt
«Wenn du Bauchschmerzen hast, bedeutet das, dass dein Magen etwas Öl braucht, um wieder wie geschmiert zu funktionieren. Iss viel Frittiertes und du wirst dich sofort besser fühlen!»bild: twitter ... Mehr lesen
Auf Facebook teilenAuf X teilen
ADHS bei Frauen – das unentdeckte Leiden
Video: watson
Das könnte dich auch noch interessieren:
51 Kommentare
Weil wir die Kommentar-Debatten weiterhin persönlich moderieren möchten, sehen wir uns gezwungen, die Kommentarfunktion 24 Stunden nach Publikation einer Story zu schliessen. Vielen Dank für dein Verständnis!
Die beliebtesten Kommentare
avatar
Sinndeslebens
03.08.2025 13:53registriert Januar 2023
Gerade als ich meine Mittagsdosis Medikinet eingenommen habe stosse ich im nächsten Moment auf diesen Artikel.
Viele können sich gar nicht vorstellen was für eine neue Lebensqualität dieses Medikament bietet. Die Gedanken sind sortiert man ist organisiert man schafft es etwas zu beenden und den Fokus nicht uns juhee zu zerstreuen. Wer es braucht profitiert extrem davon. Ich bin froh gibt es Methylphenidat.
854
Melden
Zum Kommentar
avatar
May O. Näs
03.08.2025 16:01registriert März 2024
Als ADS Betroffener und einem Kind mit ADHS habe ich die pauschalen Aussagen zur "Modediagnose" satt. "Gratiskokain" oder "medizinisch verschriebene Lernhilfe" höre ich oft bei den Amphetaminen. Dabei passiert bei den Betroffenen genau das Gegenteil, man wird endlich motorisch und gedanklich ruhig und kann sich endlich auf etwas fokussieren, sprich man wird "normal". Für Kinder mit dieser Neurodiversität ist es im heutigen Lernplan schwierig mitzuhalten.
543
Melden
Zum Kommentar
avatar
Felix Tschapajew
03.08.2025 14:51registriert November 2020
Es ist unglaublich wie viel einfacher es mir fällt, meine Wohnung sauber zu halten, pünktlich zur Arbeit zu kommen, meine sozialen Beziehungen zu pflegen, schlicht und ergreifend zu "funktionieren" wenn ich am Morgen ein Elvanse nehme...
Ehrlich? Ich kann mir niemand von den neurotypischen in meinem Umfeld vorstellen, die besser funktionieren würde, wenn sie jeden morgen Amphetamin einwefen - für mich hat das final aber eine extrem viel grössere Lebensqualität nach meiner Diagnose im Erwachsenenalter bedeutet.
383
Melden
Zum Kommentar
51
Neue Schlafstudie: Langes Schlummern geht mit höherem Sterberisiko einher
Zu wenig Schlaf macht auf die Dauer krank. Doch auch zu langes Schlummern kann gefährlich werden.
Nicht nur Schlafmangel, sondern auch besonders langes Schlafen kann der Gesundheit schaden – und das Risiko für einen frühen Tod erhöhen. Das zeigt eine neue internationale Analyse. Die Forscher fanden dabei heraus: Wer dauerhaft mehr als neun Stunden schläft, hat ein deutlich höheres Sterberisiko.
Zur Story