Es ist ein Abend der Superlative. Interviewer Steven Gätjen kann sich nicht entscheiden, ob es sich bei Boris Becker nur um den «berühmtesten Ex-Häftling Deutschlands» oder um den «berühmtesten Häftling der Welt» handelt. Egal, beides klingt bedeutend. Und was tut Boris? Er liefert. «Offen, emotional und ehrlich» (Becker). Acht Monate sass er wegen Insolvenzstraftaten hinter Gittern, dreissig hätten es ursprünglich sein sollen, doch auch diese acht werden für mindestens einen Film, eine Miniserie und ein Buch reichen. Denn Becker bietet auf Sat.1 ein derart breites Spektrum an tränengewürzten Gefühlen und existenziellen Erfahrungen, dass man meint, er sei der erste Deutsche, der jemals eine Gefängnisstrafe abgesessen hat.
Boris hat kein Problem, zu seiner Schuld zu stehen. Gätjen versucht, die Richterin zu diskreditieren, sie gelte «in England als Knallhart-Richterin». Nein, sagt Boris, «ich muss sie fast in Schutz nehmen», sie habe ihn ja nicht schuldig gesprochen, sondern die Geschworenen. Und die Geschworenen seien sehr jung gewesen, «die Hälfte unter dreissig, die wussten gar nicht, wer Boris Becker, der Tennisspieler, war». Unbestechliche junge Menschen.
Am 29. April 2022 ist der Geburtstag von Beckers Freundin Lilian oder in Gätjens Worten von «der Liebe deines Lebens». Es wird auch der Tag von Beckers Verurteilung. Weinend nimmt er Abschied von Lilian und seinem Sohn Noah. Vorher hat er Lilian noch weisse Rosen gekauft. In den Tagen vor dem schlimmen Tag hat er oft zu ihr gesagt, dass sie eine junge Frau mit Bedürfnissen und einer Zukunft sei und nicht auf ihn warten müsse, doch sie antwortete: «Baby, red nicht so'n Scheiss!» «Zwei Minuten», sagt Boris mit erstickter Stimme zu Gätjen, er braucht eine Weinpause, es überkommt ihn, Lilian sitzt im Hintergrund auf einer Polstertreppe.
A2923EV war seine Nummer im Wandsworth Prison, laut Gätjen etwa das gefährlichste, dreckigste Gefängnis von England. Dummerweise hat sich Becker «mit vielen Filmen» auf Prozess und Haft vorbereitet, «die haben mir nicht geholfen», er hatte Angst vor Doppelzelle und Dusche, vor den «Mördern» und «Kinderschändern», davor, dass ihm beim Essenholen in der Kantine einer ein Messer in den Rücken sticht, davor, dass er erpresst wird und dass andere Häftlinge Geschichten über ihn an die Presse verkaufen.
Man sieht es ihm an: Der Mann hat abgenommen. Der Mann hat jetzt auch keine Grindelwald-weissblonde Frisur mehr, sondern hat sich die Haare in einem bekömmlich gedämpften Honigton färben lassen. Insgesamt sieht er gezeichnet, aber ausgezeichnet aus, gesundheitlich habe ihm die Haft gutgetan, sagt er. Was gab es denn eigentlich zu essen, will Gätjen wissen. Reis. Kartoffeln. Reis. Kartoffeln. Ein bisschen wie im Dschungelcamp. Manchmal mit etwas Sauce. Am Sonntag mit etwas Poulet. «Du bist so hungrig, du isst alles.»
Becker verfällt im Schildern von Licht und Schatten des Knastdaseins in den Charles-Dickens-Modus. Bereits am ersten Tag in Wandsworth lernt er «Jake, Russell und Billy» kennen, drei harte Jungs mit einem guten Draht zur Gefängnisleitung. «Das werde ich nie vergessen, die drei haben mein Leben gerettet», denn «Gefängniswelt ist was ganz anderes». Auch jetzt muss Becker wieder weinen, es geht jetzt um einen Mithäftling in Beckers zweitem Gefängnis, in Huntercombe, der schon seit Jahren sitzt und Becker umbringen wollte, doch dann kam Beckers «Blutsbruder», «der schwarze Ike», und regelte alles, und am Ende warf sich sein Aggressor vor Becker auf die Knie, bat ihn um Verzeihung und am Ende lagen sich alle in den Armen.
Zu seinem 55. Geburtstag schenken ihm die anderen drei Kuchen. Sowas hat er noch nie erlebt. Gemeinsam essen sie Kuchen. Er habe in Freiheit noch nie so einen Zusammenhalt erlebt wie im Gefängnis, «wie wenn man zusammen im Krieg war, wie wenn man zusammen ums Überleben gekämpft hat. Wir haben uns gebraucht.»
Jürgen Klopp, Ion Tiriac, Johannes B. Kerner und «noch n paar» bekanntere Gesichter wollen ihn besuchen, geht nicht, zu hohes Sicherheitsrisiko. «Michael Stich hat mir einen dreiseitigen Brief geschrieben, tolle Worte gefunden.» Weinen. Zum Telefonieren spart er sich jede Woche siebeneinhalb Pfund zusammen, internationale Anrufe kann er aber erst nach drei Monaten machen, nachdem er beim deutschen Botschafter interveniert hat; es gilt dann eben doch, was George Orwell in «Animal Farm» sagte: «All animals are equal but some are more equal than others.» Es wäre interessant, die Meinung von Jake, Russell, Billy und Ike dazu zu hören.
Toll, dass Beckers Lilian so gut aussieht, bei ihren Besuchen im Gefängnis verdient er sich damit viel Respect bei den Mithäftlingen. Sagt er.
«Es brauchte ein Gefängnis, dass wir uns so nah gekommen sind wie nie in der Freiheit», sagt Becker über seine wöchentlichen Telefongespräche mit Tochter Anna. Er wollte nicht, dass «so ein zartes Mädchen» ihn im Gefängnis besucht. So wie er auch nicht wollte, dass der kleine Amadeus ihn besucht, seine Bros haben ihm alle davon abgeraten.
Zweimal war er schon verheiratet. Mit Barbara, die er immer noch super findet. Und mit Sharlely, mit der es immer noch nicht wieder super läuft. Aber er mag dazu auch nichts sagen: «Ich bin nicht der Typ, der negativ über eine Ex-Beziehung spricht, das macht ein Gentleman nicht. Ich hab eine neue Philosophie im Gefängnis studiert, die heisst Stoizismus.»
Er kann jetzt alles. Im Gefängnis unterrichtet er. Englisch (!), Mathematik (!!), Philosophie (!!!) und Sportliches. Junge Häftlinge betrachten ihn «als Vaterfigur». Die Haft ist sowohl Weiss- als auch Weiswaschung des Boris Becker. Eigentlich könnte er jetzt im Alleingang ein Gymnasium führen.
Zwei Dinge hat er gelernt: Ich darf nicht mehr ausgeben, als ich besitze. Und: Ich darf nicht mehr allen vertrauen und Verträge erst dann unterschreiben, wenn ich sie wirklich verstehe. Klingt vernünftig, normale Menschen wissen das.
«Ich hab Ideen, aber ich bin vorsichtig geworden mit Aussagen über meine Zukunft», sagt er, und dass Lilian ihm gesagt habe, dass er über ihr gemeinsames Leben nichts sagen dürfe. Aber er hoffe, dass sie «für immer und ewig natürlich» zusammenbleiben würden. Er sieht sich im Alter (Tränen, «Zwei Minuten!») «umringt von meinen Kindern, hoffentlich kommen noch ein paar dazu.» Lilian schaut bei diesem Satz sehr stoisch. Viel Glück!