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Wie es sich anfühlt, mit der Diagnose «Parkinson» zu leben

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Wie es sich anfühlt, mit der Diagnose «Parkinson» zu leben

30.08.2021, 15:2730.08.2021, 15:27
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Achtung: Diese Geschichte ist nichts für schwache Nerven. Es ist die Geschichte von Katrin. Katrin war sehr lange meine Schwägerin. In all den Jahren als Frau meines Bruders standen wir uns nie besonders nah. Zu verschieden waren unsere Welten. Ich hätte sie wohl damals niemals besucht. Heute tu ich es, mehr als 30 Jahre nach dem Eintritt in unsere Familie. Weshalb? Weil uns heute etwas verbindet. Wir sind beide unheilbar krank. Sie hat vor 9, ich vor 8 Jahren die Diagnose «Parkinson» erhalten.

Katrin erwartet mich unten. Ihre Augen sehen aus, als hätte sie erst gerade geweint. Auf ihren Lippen aber liegt ein fröhliches Lächeln. Katrin ist gross. So gross wie ein Model.

Damals, als wir noch Familie waren, kam sie immer «wie aus dem Truckli» gekleidet an Familienfeiern; sehr schlank, durchtrainiert und einfach perfekt in allem, was sie war und tat.

Katrin lebt seit 10 Jahren mit einem neuen Mann zusammen. Vor 6 Jahren haben sie geheiratet, sind in ein schmuckes Einfamilienhäuschen in Zürichs Agglomeration gezogen. Die beiden Mädchen sind längst erwachsen und leben ihre eigenen Leben. Immer in Kontakt mit dem Mami.

Ich steige ein mit direkten Fragen. Kein Geplänkel, kein Gesäusel. Der Sinn unseres Gesprächs ist uns beiden klar. Wir wollen zeigen, was das heisst, Parkinson zu haben. Dass die Krankheit eben weitaus mehr ist als zittrige Hände und ein schlurfender Gang. Und dass eben nicht nur alte «Bäppeli» davon betroffen sind.

Katrin ist ruhig, ihre rechte Hand zittert unmerklich. Sie hat sich zwei Tage lang auf unser Gespräch vorbereitet. Geistig. Das muss sie, sonst gerät sie aus dem Häuschen. Stress lieben Parkis gar nicht. Stress verstärkt praktisch alle Symptome. Ich glaube, das geht allen Parkis so.

Wie war das damals bei ihr, als sie die Diagnose erhielt?
«Ich war nicht mal so überrascht, im Moment zwar geschockt, ging drei Tage lang nicht arbeiten, aber dann raffte ich mich auf und machte so weiter wie bisher.»

«Parkis» spüren oft schon Jahre zuvor, dass etwas nicht stimmt. Meist ist es ein Arm, der beim Gehen nicht mitpendelt. Oder ein kaum merkliches Nachziehen eines Beines. Auch ich hatte bereits drei Jahre vor meiner Diagnose die Vermutung, dass es Parkinson sein könnte – schliesslich war mein Vater auch davon betroffen, schon einige Jahre zuvor.

Was sowohl Diagnose wie auch Behandlung von Parkinson schwierig macht, ist die Tatsache, dass kein Parkinson gleich ist. Das zeigt sich auch bei Katrin und mir: Katrin leidet am meisten unter Ängsten. Diffusen, unerklärlichen, selbst für sie nicht nachvollziehbaren. Angst, dass sie jemand verfolgt. Dass Unfälle geschehen, ihr Pferd durchgeht, was auch immer. Diese Ängste beherrschen ihren Alltag, bis sie sie durch gezielte Medikation in den Griff kriegt.

Sehr schnell wird für die damals 46-jährige Bernerin klar, dass sie auf ihr geliebtes Reiten und ihr Pferd verzichten muss. Ein erster Schlag. Es ist nicht der letzte.

Nach fünf Jahren lässt Katrin eine sogenannte Tiefen-Hirn-Stimulation machen. Sie hat ihre Hände nicht mehr im Griff, ein Arm «verreist» manchmal. Bei der stundenlangen Operation werden ihr bei vollem Bewusstsein zwei Elektroden ins Gehirn gepflanzt, welche mittels eines Kabels verbunden sind mit einem Impulsgeber, der unter dem Rippenbogen platziert wird.

Einige Monate lang ist Katrin selig. Es war fast wieder wie vorher. Fast. Der Tremor in der Hand geht auch nach mehrmaligem «Ajustieren» nicht weg.

Und dann wächst das Kabel ein, Katrin kann den Kopf nicht mehr drehen. Also wieder operieren. Es gibt eine Entzündung im Gehirn. Alles muss wieder raus. Erneute Op. Wieder nicht gut. Das geht über Monate so. Eine schwierige Zeit. Es sollten bis heute 22 Vollnarkosen werden (auch von noch ganz anderen Beschwerden), die Katrin gut wegsteckt.

Katrin hält sich an dem, was sie noch machen kann. Ist meist gut gelaunt.

Manchmal aber, da ist sie auch traurig.

Parkinson erfasst eben auch die Psyche.

Manche werden ängstlich, ich falle immer wieder in «Löcher», einfach so, ohne ersichtlichen Grund. Rapple mich auf, motiviere mich mit Arbeit.

Die Bestätigung, noch etwas leisten zu können, die ist auch für Katrin enorm wichtig. Sie arbeitet als Sekretärin einer Intensivstation, sie liebt ihren Job. Doch immer öfter muss sie Überzeit machen, kommt früher, geht später, aber der Aktenstapel vor ihr auf dem Tisch wird trotzdem immer grösser.

Es kommt der Moment, wo Katrin sich eingestehen muss: Ich kann nicht mehr. «Wenn ich etwas mache, dann mache ich das richtig. Und das gelang mir einfach nicht mehr. Ich musste die Arbeit aufgeben». Jetzt wird Katrin nachdenklich, Tränen steigen auf. «Das war schon sehr hart, ich liebte meine Arbeit!»

Parkinson erfasst eben auch den Geist.

Schritt für Schritt nimmt er dir die geistige Beweglichkeit. Aber auch da: Den einen betrifft es mehr, den andern weniger.

Katrin – einst eine quirlige, muntere und gesprächige Frau – merkt, dass «spontan» immer weniger möglich wird. Spontan verreisen wie früher? «Nur, wenn ich mich tagelang darauf vorbereiten kann.» Sofort gibt es Stress, wenn jemand etwas von ihr verlangt, etwas ausserplanmässig auftaucht.

Markus, ihr Mann, gesellt sich zu uns (er arbeitet zu Hause, auch schon vor Corona).

Katrins Augen leuchten. «Er lässt mich genauso sein, wie ich bin, und umgekehrt das Gleiche. Er macht das schampar gut, ist immer für mich da.» Das ganz ohne Mitleid. Denn Mitleid, da sind wir uns einig, ist sch…licht nicht erwünscht.

«Ich bin froh, wenn Markus da ist. Ich kann alleine sein, bin es aber nicht gerne.» Das sagt eine Frau, die früher, als Arztgattin, gern und öfter alleine war.

Es ist wohl das Allerwichtigste: eine schöne Beziehung zu pflegen. Geliebt zu werden, einfach so, wie man ist. Damit sind wir beide gesegnet. Nicht selbstverständlich!

Dann kommt ein Geständnis, was mich rührt und auch ein bisschen wundert. «Ich bin froh, wenn Markus meine Briefe aufmacht. Selbst das stresst mich. Dass ich etwas nicht erledigen kann, was von mir erwartet wird.»

So ist es eben: «Die Welt wird kleiner.»

Ja, das kenne ich.

«Freunde» wenden sich ab, die echten bleiben zwar, aber so richtig umgehen mit uns und unserer Krankheit können die wenigsten. Die einen sagen dann eben: «Für mich bist du gar nicht krank». Andere meiden das Thema.

Ist ja auch schwierig. Was sagt man zu einem Parki?
«Wie geht’s?»
Und dann, wenn der Parki ehrlich antwortet «Nicht so gut», was sagt man dann?
Tröstet man, womit genau?

Das Witzigste ist, wenn die Leute zum Abschied sagen: «Blib gsund». Haha.

Katrin lebt bewusster im Heute, heute. Sie versucht, ihre Krankheit zu akzeptieren. Den Parkinson nicht als Gegner, sondern als Freund anzusehen. Denn er ist da. Jeden Tag. Ob man will oder nicht.

Raus geht Katrin eigentlich nur noch zu ihren Töchtern, die nicht weit entfernt leben. Ihre erste und bisher einzige Enkelin macht ihr Freude. Auch wenn Katrin froh ist, wenn sie nach ein paar gemeinsamen Stunden wieder heimfahren kann.

Und sonst? Einkaufen, ja. Und spazieren gehen. Ein Lichtblick und Seelentröster liegt bei unserem Gespräch unter dem Tisch: Katrin und Markus lieben ihren Hund, einen Flatcoated Retriever. «Er ist immer aufgestellt, und wenn ich mal traurig bin, dann legt er seinen Kopf auf meine Beine und ist einfach da. Das ist reine Therapie.»

Katrin wäre nicht Katrin («Die Krankheit verändert einen, aber nicht den Charakter!»), würde sie einfach aufgeben. «Das Glas ist halbvoll», sagt sie und lächelt.

Katrin hatte schon immer ein künstlerisches Flair.

Das kann sie jetzt voll ausleben. Heute gestaltet sie Glückwunschkarten. In allen Farben und Formen. Sie zeigt mir den Wintergarten: Das ist ihr Atelier. Hier kann sie stundenlang tüfteln, ihre Fantasie ausleben. Die Kärtchen kommen so gut an, dass Katrin sich dran macht, sie in einem Online-Shop zu verkaufen.

«Das Basteln ist kein Ersatz für meine Arbeit. Aber es befriedigt», sagt’s und führt mir vor, wie sie die Sujets stanzt. Mehr geht heute nicht. Der «Zitteri» macht sich bemerkbar.

Parkinson erfasst eben auch den Körper.

Mal machen die Finger einfach nicht mit, mal «spinnt» der Arm, manchmal «freezt» der ganze Körper ein. Und mal mag sie einfach nicht.

Das ist wieder eine Gemeinsamkeit: «Der Parkinson ist eine Wundertüte», sagt Katrin lachend.

Du wachst morgens auf und denkst: Heute bin ich ziemlich zwäg. Das kann ein paar Stunden dauern, im Glücksfall einen ganzen Tag. Viel öfter aber ist am Morgen nichts wie am Abend. An einem Morgen kann ich turnen, herumspringen, will alles erledigen. Am Nachmittag bin ich nur noch platt. Oder umgekehrt.

Katrin geht es genauso. Auch wenn wir unsere Medikamente (bei Katrin sind es mittlerweile 20 Tabletten, Tag für Tag) so wie immer brav einnehmen: An einem Tag geht alles, am nächsten nichts.

Weshalb? Erklären kann das weder das WWW noch ein Parkinson-Spezialist. Diese Unberechenbarkeit ist es, was Vieles schwierig macht. Je länger je mehr.

Irgendwie merken wir in unserem Gespräch: Die Krankheit hat nicht nur üble Seiten. Sie nimmt uns in vielem den Druck weg. Leistung zu zeigen, etwas vorzumachen, etwas zu scheinen, was man nicht ist: Das braucht es alles nicht mehr.

Katrin entdeckt, dass sie erst durch den Parkinson begreift, was wirklich wichtig ist im Leben. Es sind nicht Modelmasse, nicht das perfekte Auftreten, nicht das perfekte 5-Gang-Dinner. Katrin, einst begnadete Köchin, macht heute lieber Spaghetti Bolognese. Weil Markus das so liebt. Und weil sie nichts mehr riechen kann, genauso wenig wie schmecken.

Nach einem Spaziergang mit Markus und dem fröhlichen Hundi und vielem Lachen kehre ich müde, aber zufrieden nach Hause zurück.

Katrin und ich, wir sind vielleicht zweckoptimistisch, wenn wir sagen: Wir leben im Hier und nehmen, was uns das Leben noch schenkt.

Auch, wenn es immer weniger ist.

Katrin sagt noch etwas, was mir gefällt: «Parkinson ist unheilbar, aber man kann damit leben.»

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23 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Minigei
30.08.2021 15:55registriert März 2020
Vor bald 22 Jahren ist meine Grossmutter gestorben. Sie hatte Parkinson.
Ich war Teeny und konnte so gar nichts mit dieser zittrigen, gebrechlichen, weinerlichen Frau anfangen. In der Familie haben wir nicht darüber gesprochen (wahrscheinlich waren alle überfordert)
Es tut immer noch jeden Tag weh, nicht genau verstanden zu haben an was das sie litt, warum sie war, wie sie war.
Danke dafür, dass du eure Geschichte geteilt hast und damit etas Licht ins Dunkle bringen konntest.
Ich wünsche dir alles Gute.
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bbelser
30.08.2021 16:13registriert Oktober 2014
Danke für das ausführliche Teilen eurer tagtäglichen Erfahrungen mit dieser immer noch wenig verstandenen Krankheit.

Es ist immer wieder beeindruckend (und auch erschreckend), wie sehr doch der ganze Mensch in all seinen Facetten von solch einer massiven Beeinträchtigung des Gleichgewichts, das wir "Gesundheit" nennen, betroffen ist.

Für mich wäre es interessant, noch ein wenig konkreter zu erfahren, wie ihr euch den Umgang von Menschen, die selbst nicht von dieser Krankheit betroffen sind, mit euch wünschen würdet.

Danke fürs Teilhabenlassen an einer ganz eigenen "Welt"!
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    Deswegen werden Frauen bei Hosentaschen diskriminiert
    Schon seit jeher sind die Hosentaschen bei Frauen kleiner als bei den Männern. Die Gründe dafür liegen bei Material, Schnitt und veralteten Vorstellungen.

    Vor Kurzem wurde bekannt, dass bei allen ESC-Veranstaltungen Taschen, Rucksäcke oder Bauchtaschen verboten sind. Benutzt werden können nur Jacken- und Hosentaschen. Doch Letzteres könnte vor allem für Frauen ein Problem darstellen. Denn die Taschen bei Frauenkleidung sind meistens kleiner oder gar nicht erst vorhanden, da sie nur aufgenäht werden.

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