Er war 491 Tage eine Hamas-Geisel: Doch sein wahrer Albtraum beginnt erst danach
Es ist das erste Erinnerungsbuch einer israelischen Geisel und man gibt es bis zum Schluss nicht mehr aus der Hand: Auf erschütternde Weise legt Eli Sharabi Zeugnis ab von seiner 491 Tage währenden Gefangenschaft in erstickenden Tunnels der Hamas-Terroristen, die ihn körperlich misshandelten und psychisch folterten. Er schildert, wie am Morgen des 7. Oktober 2023 alles begonnen hat.
Eli Sharabi wohnt mit seiner Frau Lianne und ihren Töchtern Noiya und Yahel im Kibbuz Be’eri, kaum 5 Kilometer von der Grenze zum Gazastreifen entfernt. Sie sind Raketenangriffe gewohnt. Aber diesmal ist etwas «nie Dagewesenes» im Gang. Ununterbrochen poppen auf ihren Handys Nachrichten auf. Bing. Bing. Bing.
Sie erhalten Bilder vom Blutbad auf dem Gelände des Nova-Musikfestivals, das ganz in der Nähe stattfindet. Plötzlich warnt sie das lokale Sicherheitsteam, Hamas-Banden auf weissen Toyota-Pickups seien in den Kibbuz eingedrungen. Eine 13-jährige Klassenkameradin schreibt Yahel: «Sie haben meine Mama erschossen!» Dann hören die Sharabis, wie eine Scheibe in ihrem Haus klirrt.
«Ich komme wieder!», ruft Eli Sharabi zum Abschied
Die Hamas-Terroristen zerren den 51-jährigen Eli aus dem Haus. «Ich komme wieder», ruft er zum Abschied. Ob die Familie ihn noch hört, weiss er nicht. Ein Scherge prügelt auf ihn ein, andere Hamas-Horden sind ausser sich vor Freude. Sie feiern grölend ihren Erfolg. Eli Sharabi versteht Arabisch und realisiert, dass sie ihn lebend wollen.
Sie entführen ihn über die Grenze in den Gazastreifen. Dort bemerkt er eine ekstatische Menschenmenge. Hände greifen nach ihm, schlagen auf seinen Kopf ein, verwünschen ihn. Die Terroristen versuchen den Mob zurückzudrängen, bewahren ihn vor einem Lynchmord.
Die Terroristen schleppen Eli in ein Haus, dessen Fenster mit Sackleinen getarnt sind, auf denen UNRWA steht, die Abkürzung für das UN-Hilfswerk für Palästina-Flüchtlinge. Sie verhören ihn, fesseln ihn Tag und Nacht brutal an den Beinen und Armen. Bald schmerzt alles unerträglich. Es ist, so Sharabi, «pure Folter». Erst nach Tagen befreien sie ihn von den Armfesseln.
Mit der Zeit lernt er seine Bewacher genauer kennen. Sie halten ihm Vorträge, dass es keinen Platz für einen Staat Israel gebe. Im Einzelgespräch zeigen manche Hamas-Leute menschliche Züge, werfen ihm mal eine Frucht oder etwas Käse zu. Treten sie aber als Gruppe auf, überbieten sie sich in abfälligen Bemerkungen, Demütigungen und brutalen Handlungen.
Einer Geisel fehlt die Hand und der Unterarm
Anfangs ist er in einer Wohnung untergebracht, das Essen und die hygienischen Bedingungen sind noch anständig. Doch als die israelischen Bombardierungen zunehmen, versteckt die Hamas ihre Geiseln in engen, feuchten und dunklen Tunnels. Eli ist vor allem mit jungen Menschen eingepfercht. Einer hat einen amputierten Arm. Er erzählt, wie er zusammen mit anderen Besuchern des Nova-Festivals in einen zuletzt völlig überfüllten Raketenbunker flüchtete. Die Terroristen warfen Granaten in den Bunker. Beim Versuch, eine Granate abzufangen und wieder ins Freie zu schleudern, hat er die Hand und den Unterarm verloren.
Eines Tages kommt ein Wächter und sagt zu drei Mitgefangenen Elis, sie könnten zurück zu Mama. Sie packen ihre wenigen Sachen zusammen. Für die übrigen Geiseln ist es hart zu sehen, wie ein paar Auserkorene plötzlich freikommen. Später erfährt Eli, dass die vermeintlich Freigelassenen nie zu Hause ankamen.
Seine Mission ist es, zu überleben
Eli ist für manche Mitgefangenen eine Art Vaterfigur, richtet sie auf, wenn sie die ständige Todesangst, den psychischen und physischen Terror der Hamas-Bewacher, die Trostlosigkeit in den Verliesen und das Heimweh nicht mehr aushalten. Er redet ihnen zu, sie sollten sich nicht von ihrer Mission ablenken lassen. Ihre Mission sei es zu überleben. Eli klammert sich an die Vorstellung, dass seine Frau und Töchter in Israel auf sein Schicksal aufmerksam machen und ihn erwarten würden.
Es gibt eine fast perverse Logik: Nichts fürchten die Geiseln mehr als den Tag, an dem israelische Truppen sie in den Tunnels entdeckten, denn vor der Befreiung würde die Hamas garantiert alle Gefangenen umbringen. Je heftiger Israels Armee im Gazastreifen zuschlägt, desto schrecklicher sind die Auswirkungen für die Geiseln. Die Qualität und Menge des Essens nimmt drastisch ab, die Verstecke werden scheusslicher und ihre Bewacher grausamer. Dagegen jubeln die Hamas-Leute und sind milde gestimmt, wenn israelischen Soldaten etwas zugestossen ist oder einer ihrer Helikopter abgeschossen wurde.
Die Bewacher verweigern den Geiseln das Essen
Sie machen sich einen Spass daraus, den Geiseln das Essen oder den Gang auf die Toilette zu verweigern. Einmal tritt und schlägt ein Terrorist aus einer Laune heraus auf Eli ein, sodass er mutmasslich mit gebrochenen Rippen am Boden liegt.
Nach über 400 Tagen erscheint ein höherer Hamas-Funktionär und kündigt an, Eli und andere Geiseln kämen bald frei. Der 24-jährige Alon Ohel, mit dem sich Eli angefreundet hat, bricht zusammen. Denn er muss weiter in Geiselhaft bleiben, weil man seine Freilassung noch nicht unterzeichnet hat. Alon Ohel ist erst Mitte Oktober 2025, nach über zwei Jahren Gefangenschaft, freigekommen. In den Tunneln ist er fast erblindet.
Tunnels voller Ratten, Mäuse und Kakerlaken
Eli wird in einen anderen Stollen gebracht, der schlimmste von allen. Nichts ist betoniert, nur blanke Erde und besonders viele Ratten, Mäuse, Kakerlaken. Er hofft, der «Tag der Freiheit» komme bald, sodass er seine Familie endlich wieder in die Arme schliessen kann. Dann, nach 491 Tagen Höllenqualen ist es so weit: Er kommt, halb verhungert und völlig ausgemergelt, endlich wieder frei.
Im Fahrzeug des Roten Kreuzes sagt man ihm, seine Mutter und seine Schwester würden ihn erwarten. Er fordert: «Bringt meine Frau und meine Töchter zu mir!» Schweigen. Da realisiert er alles, und es ist der schlimmste Schmerz während seines ganzen Martyriums. Seine Lianne, seine Noiya und seine Yahel sind tot. Ermordet von den Hamas-Terroristen.
In der Geiselhaft hat er alle Szenarien durchgedacht, auch dieses schreckliche. Etwas «in mir hat mich darauf vorbereitet, mich dafür gewappnet». Er erfährt, dass auch sein Bruder Yossi, der im gleichen Kibbuz lebte, entführt worden ist. Er kam bei einem israelischen Bombenangriff um. Es bleibt Eli Sharabi nur, die Gräber aufzusuchen. Als er den Friedhof verlässt, sagt er sich: «Jetzt, Leben.»
