Die Mutter ist ausser sich. 35'000 Pfund soll «der BBC-Moderator» ihrem Kind insgesamt über drei Jahre hinweg bezahlt haben. 35'000 Pfund, die das Kind in Crack investierte. Aus einer «fröhlichen, unbekümmerten jungen Person» sei ein «geisterhafter Crack-Junkie» geworden. Bankauszüge zeigten zwischen 2020 und heute mehrere Überweisungen, die höchste habe 5000 Pfund betragen. Für das Geld soll der Mann sexuell explizite Fotos des Kindes erhalten haben.
Am 19. Mai wenden sich die Eltern mit den Vorwürfen an die BBC. Ihr Ziel: Der Geldfluss soll endlich aufhören, kein Geld den Drogen. Die BBC reagiert, doch sie reagiert gelassen. Schickt den Eltern ein Mail, in dem sie schreibt, sie würde die Vorwürfe ernst nehmen. Versucht einmal, sie anzurufen, gibt jedoch auf, als der Anruf nicht sofort entgegengenommen wird.
Sunday's front page: BBC star partied with bosses at award bash after sex pic allegations were made#TomorrowsPapersTodayhttps://t.co/DCsVg2C39p pic.twitter.com/P65ZlG75p0
— The Mirror (@DailyMirror) July 8, 2023
Am 6. Juli informiert die Zeitung «The Sun» die BBC und den ominösen «Sprecher» darüber, dass sie am 7. Juli die Enthüllungen der Eltern publizieren wird. Was sie tut. Panik bricht aus. Mehrere BBC-Sprecher werden daraufhin verdächtigt, auf den sozialen Medien brechen Hexenjagden und Vorverurteilungspartys los. Intern ist schnell klar, dass es sich nur um einen handeln kann: Huw Edwards, 61, mit 440'000 Pfund Jahresgehalt viertbestbezahlter BBC-Star, News-Moderator und Kommentator «wichtiger Ereignisse».
Seine Stimme begleitete das Publikum durch die Hochzeit von William und Kate, die Inauguration von Obama, die Hochzeit von Meghan und Harry, die Beerdigung von Prinz Philip, die Krönung von Charles. Er verkündete in einem schwarzen Anzug den Tod der Queen und begleitete auch ihre Beerdigung. Huw Edwards, Respektsperson ohnegleichen, fünffacher Familienvater, Kirchgänger mit einer Doktorarbeit über Kirchengeschichte, Sohn einer Lehrerin und eines Professors für walisische Literatur. Seinen Informationen, seinem Urteil vertrauten Millionen.
Am 8. Juli lässt das «Kind», das heute 20 Jahre alt ist und dessen Geschlecht weiterhin unbekannt bleibt, durch seinen Anwalt ausrichten, alles, was die Eltern der «Sun» erzählt hätten, sei «rubbish»: «Um jeden Zweifel auszuräumen: Zwischen unserem Mandanten und der BBC-Persönlichkeit hat nichts Unangemessenes oder Unrechtmässiges stattgefunden, und die in der Zeitung ‹Sun› erhobenen Anschuldigungen sind Unsinn.»
Am 9. Juli fordert der Polizist, der einst wegen vielfachem Kindsmissbrauch gegen den BBC-Moderator Jimmy Saville ermittelt hatte, der in der Öffentlichkeit noch immer unbekannte BBC-Mann solle sich stellen. Kritiker der BBC wittern eine Götterdämmerung.
Erst am 10. Juli äussert sich die «Sun» zu den Vorwürfen des mutmasslichen Opfers und krebst zurück. Niemals habe sie unterstellt, dass es sich um kriminelle Machenschaften handle, das hätte wiederum ein anderes Blatt aus dem Medienimperium von Rupert Murdoch (zu dem auch «The Sun» gehört) so insinuiert, nämlich die «Sunday Times». Die «Sun» sei ganz und gar unschuldig und habe sich einzig um besorgte Eltern gekümmert. Die Eltern äussern sich enttäuscht. Sie sind sich sicher, dass «der Moderator» auch den Anwalt ihres Kindes finanziert habe.
Am Mittwoch, dem 12. Juli, gibt die Polizei bekannt, dass sie keine weiteren Ermittlungen anstrengen wird. Das mutmassliche Opfer war zum Beginn des angeblichen Foto-Handels nicht 17, wie die Eltern behauptet hatten, sondern 18, womit es sich bei dem Handel nicht mehr um eine Straftat handeln würde.
Wenige Minuten auf das Statement der Polizei folgt ein nächstes. Verfasst hat es die ehemalige BBC-Redaktorin Vicky Flind, die Gattin von Huw Edwards. Die erste Reaktion ist: Wenn Flind ihren Gatten outet, muss dieser WIRKLICH schuldig sein! Doch alles, was sie beabsichtigt, ist, um Ruhe zu bitten und die Wogen der Verdächtigungen anderer und der Vorverurteilung etwas zu glätten:
Bei der BBC herrscht Chaos: Die 18-Uhr-Nachrichten bringen den Fall Edwards als grösste Meldung, die beiden Nachrichtensprecherinnen verhaspeln sich mehrfach und vermelden Fake-News, die sie Sekunden später wieder korrigieren müssen, etwa, dass Edwards bereits entlassen sei, was er nicht ist. Vor dem BBC-Gebäude geben Mitarbeiter Interviews, in denen sie sich wütend gegen Edwards wenden. Andere sagen, er habe sich «wütend» in die Klinik begeben und fühle sich von der BBC im Stich gelassen.
Ein abschliessendes Urteil kann zum jetzigen Zeitpunkt nicht gefällt werden, die Stimme des mutmasslichen Opfers steht in diesem Fall konträr zu der seiner Eltern, für die Polizei ist der Fall erledigt, Edwards muss sich erst noch äussern. Inzwischen sind von drei weiteren Seiten Vorwürfe gegen ihn erhoben worden, auch BBC-intern, die BBC wird sich also endlich um den Fall kümmern müssen. Und auch die «Sun» wird noch mehrere Fragen beantworten müssen. Etwa die vom «Guardian» gestellte, ob sie die Bankauszüge von den angeblichen Überweisungen tatsächlich gesehen oder bloss davon gehört hat.
Möglicherweise hat Edwards die Not eines jungen Junkies auf unlautere Art ausgenutzt. Möglicherweise haben die Eltern recht. Möglicherweise ist dies eine Kampagne von Rupert Murdoch gegen die BBC. Fest steht nur, dass Huw Edwards ein Mann ist, dessen Stimme im kollektiven Gedächtnis Grossbritanniens unauslöschlich mit den grössten Ereignissen des Landes verknüpft ist. Sein Fall ist A Very British Scandal.