Was von aussen lange wie eine liebevolle Mutter-Tochter-Beziehung aussah, war eigentlich eine zutiefst toxische. Das ist die Geschichte einer jungen Frau, die keinen anderen Ausweg mehr sah, als ihre Mutter umbringen zu lassen.
Es ist das Jahr 2008 in Springfield, Missouri: Clauddine Blanchard und die zwölfjährige Gypsy Rose sind gerade hergezogen. Der Hurrikan Katrina hat ihnen ihr altes Zuhause und all ihr Hab und Gut geraubt. Ihre neue Nachbarschaft nimmt sie gut auf und bewundert die Mutter für die liebevolle Pflege ihrer kranken Tochter.
Seit ihrer Geburt leidet Gypsy Rose an einem Herzfehler und ab dem Alter von fünf Jahren ist sie an einen Rollstuhl gefesselt, weil ihre Muskeln schwinden. Mit zwölf Jahren muss das Mädchen über eine Magensonde ernährt werden und hat keine Haare mehr auf dem Kopf. Sie ist kaum überlebensfähig. Weil sie sich auf keinen Fall mit einem Virus anstecken darf, beschränkt sich ihr soziales Umfeld allein auf die Mutter.
Die Bewohner von Springfield sind berührt vom Schicksal der beiden und wollen helfen. Sie sammeln Spenden und eine Wohlfahrtsorganisation stellt den beiden ein Haus zur Verfügung. Auch die Medien begleiten Mutter und Tochter auf ihrem Weg, Gypsy wird zu einem Vorbild für andere kranke Kinder in den USA und schenkt ihnen Hoffnung.
2010 wird ein Anwohner von Springfield mitten in der Nacht aus dem Schlaf gerissen, als seine Klingel läutet. Die inzwischen 14-jährige Gypsy steht vor der Tür und bittet ihn, sie ins Spital zu fahren. Er wundert sich darüber, dass Gypsy plötzlich auf den Beinen stehen kann und bringt sie zurück nach Hause, wo Clauddine sie dankbar in Empfang nimmt. Mutter Blanchard erklärt dem Nachbarn, das Mädchen sei von den ganzen Medikamenten verwirrt. Angesprochen darauf, dass ihre Tochter ja gar nicht im Rollstuhl sässe, kontert sie, dass Gypsy mittlerweile einige Schritte alleine gehen könne, was ein grosser Meilenstein sei. Was im Nachhinein als erstes Anzeichen dafür gedeutet werden kann, dass etwas im Hause Blanchard nicht stimmt, ist damals schnell wieder vergessen.
Bis am 14. Juni 2015 der grosse Schock folgt: Die Nachbarn rufen die Polizei, sie machen sich Sorgen. Seit Tagen haben sie nichts von Clauddine gesehen oder gehört. Kurz darauf ist das Haus umzingelt von Beamten und wird abgesperrt. Es handelt sich nun um einen Tatort. Das Opfer: die 48-jährige Clauddine. Sie wurde tot in ihrem Bett aufgefunden, wo sie mit 17 Messerstichen in den Rücken umgebracht wurde. Von Gypsy fehlt während der nächsten 24 Stunden jede Spur.
Als die Beamten Gypsy schliesslich finden, sind sie überrascht, denn: Das von Nachbarn als zerbrechliches, leidendes Geschöpf beschriebene Mädchen ist gerade auf einem Spaziergang mit ihrem Freund und wirkt quickfidel. Was die Polizei im Laufe ihrer Ermittlungen herausfindet, wird weit über die Grenzen der USA hinaus hohe Wellen schlagen.
Mittels Medikamenten hat Mutter Clauddine ihr Töchterchen nämlich nicht gesund gepflegt, sondern erst krank gemacht. Alle Gebrechen, an denen Gypsy mutmasslich litt, wurden herbeigeführt. Die eigentliche Kranke war Clauddine selbst, die am Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom litt.
Die bereits erwähnte Magensonde beispielsweise hatte den für Clauddine praktischen Nebeneffekt, dass Gypsy nicht mitbekam, was ihre Mutter ihr einflösste. Diese Sonde musste halbjährlich in einer schmerzhaften Operation erneuert werden. Die Haare hatte Clauddine ihrer Tochter abrasiert unter dem Vorwand, dass diese unter Leukämie leide und ihr daher sowieso bald die Haare ausfallen würden. Weil sie ausserdem der Meinung war, ihr Kind sabbere zu viel, wurden Gypsy in einem Eingriff die Speicheldrüsen entfernt. Hinzu kamen diverse Operationen an Augen und Ohren des Mädchens. In der Dokumentation «Mommy Dead and Dearest» wird Gypsy später sagen, dass ihre Mutter so viele Krankheiten erfunden hätte, dass sie sich unmöglich an alles erinnern könne.
Damit der Schwindel nicht aufflog, besuchten die zwei über 100 verschiedene Ärzte. Allen erzählte Clauddine, dass die Papiere und Krankenkassenkarten beim Hurrikan zerstört wurden. Als Gypsy eines Tages eine Krankenkassenkarte fand, staunte sie nicht schlecht, als darauf stand, sie sei im Jahr 1991 geboren. Ihre Mutter liess sie im Glauben, sie sei vier Jahre jünger.
Sobald jemand misstrauisch wurde, wechselten sie die Klinik. Gypsy wurde indessen befohlen, bei den Untersuchungen den Mund zu halten und ihre Beine im Rollstuhl nicht zu bewegen. Die Medikamente, die ihre Mutter ihr verabreichte, sorgten dafür, dass ihr die Zähne ausfielen und hatten schier unerträgliche Nebenwirkungen. Trotzdem schwieg Gypsy während all diesen Jahren, im Glauben, ihre Mutter würde dies aus Liebe tun.
Ein Jahr bevor Mutter und Tochter nach Springfield zogen, notierte ein untersuchender Arzt den Verdacht auf das Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom in seiner Akte. Aus Angst, dass ihm niemand glaubt, unternahm er jedoch nichts. Weil Clauddine regelmässig Akteneinsicht forderte, erfuhr sie vom Verdacht des Doktors und zog um.
Mutter Clauddine misshandelte Gypsy nicht nur im medizinischen Sinne, sondern auch anderweitig: Sie fesselte sie ans Bett – manchmal zwei Wochen lang – und verprügelte sie mit einem Kleiderbügel. Wenn Gypsy Fragen stellte, wurde ihre Mutter wütend und manipulierte sie. Und obwohl Gypsy ein Handy und einen Laptop hatte, durfte sie mit niemandem chatten, weil es ihre Mutter nicht erlaubte.
Trotzdem begann sie heimlich im Internet zu surfen, sobald ihre Mutter sich schlafen legte. Auf einer christlichen Datingplattform lernte sie einen jungen Mann namens Nicholas kennen und verliebte sich in ihn.
Ihre Mutter erwischte sie schliesslich beim Chatten mit Nicholas – was dann passierte, lässt sich nicht abschliessend beurteilen. Angeblich soll die Mutter ihr gedroht haben, ihr die Finger mit einem Hammer zu brechen. Davon liess sich Gypsy aber nicht aufhalten und schrieb weiterhin mit Nicholas. Erst später wird sie erfahren, dass dieser bereits wegen Masturbation in der Öffentlichkeit, Störung des öffentlichen Friedens und dem versteckten Tragen einer Waffe vorbestraft war.
Sie heckten einen Plan aus, um sich zu treffen: Als Clauddine mit Gypsy ins Kino ging, war Nicholas auch dort und sie taten so, als würden sie sich nicht kennen. Die beiden angeblich Fremden kamen ins Gespräch und da sie sich in der Öffentlichkeit befanden, konnte Clauddine nicht dazwischenfunken. Bevor der Film begann, ging Gypsy auf die Toilette, wo sie Nicholas traf und die beiden miteinander schliefen.
Wenig später überlegen die zwei sich, wie sie Clauddine eliminieren können. Zu diesem Zeitpunkt sah Gypsy ihre Mutter schon lange nicht mehr als ihre Beschützerin an – sie fürchtete sich regelrecht vor ihr.
An einem Abend im Juni 2014 betrat Nicholas mithilfe des bereitgelegten Schlüssels das Haus der Blanchards und bekam von Gypsy ein Messer, Handschuhe und Klebeband in die Hand gedrückt. Ihr Lover schlich ins Zimmer der schlafenden Mutter und erstach sie dort brutal, während Gypsy sich im Badezimmer die Ohren zuhielt. Anschliessend klauten die beiden 4000 Dollar Bargeld aus dem Safe und gingen in ein Motel, um zu feiern. Sie rechneten nach eigenen Aussagen überhaupt nicht damit, geschnappt zu werden.
Und auch auf den sozialen Medien hielten sie sich nicht gerade bedeckt. Durch ihr Verhalten online gerieten sie überhaupt erst ins Visier der Ermittlungen. In einem Post auf der Facebook-Seite ihrer Mutter schrieb Gypsy kurz nach dem Mord beispielsweise: «Das Miststück ist tot.» In den Kommentaren wurde vom gleichen Profil aus dann nochmals nachgelegt: «Ich habe dieses fette Schwein abgeschlachtet und ihre süsse, unschuldige Tochter vergewaltigt. Ihre Schreie waren so verdammt laut. LOL.»
Im Verhör mit der Polizei wurde relativ schnell klar, was passiert ist. Weil Gypsy gut mit den Behörden kooperierte und in dieser Geschichte nicht nur Täterin, sondern auch Opfer war, wurde sie zu einer verhältnismässig kurzen Haftstrafe von zehn Jahren für Beihilfe zum Mord verurteilt. Nicholas hingegen wurde des Mordes ersten Grades schuldig befunden und zu lebenslanger Haft ohne Möglichkeit auf Bewährung verurteilt.
Gypsy Rose Blanchard durfte im Dezember 2023 auf Bewährung das Gefängnis verlassen und ist seither wieder auf freiem Fuss. Seither teilt sie ihr Leben mit 8,3 Millionen Followern auf Instagram.
Und noch bezüglich des Titels der Geschichte: Da war niemand "krank vor Liebe". Das MSBP hat wirklich rein gar nichts mit Liebe zu tun.