Ein Afroamerikaner filmt mit seinem Telefon einen Streit mit einer weissen Frau in einem Park in Williamsburg, New York. Der 27-sekündige Clip beginnt mittendrin. Was vorher geschah, ist nicht ersichtlich. Der Afroamerikaner beschuldigt die Frau, sie habe ihn angewiesen, «zurück in die Hood zu gehen», «go back to your hood». Dies wäre eine klare rassistische Beleidigung, weil damit suggeriert würde, er und seine Partnerin seien in dieser Nachbarschaft nicht erwünscht.
Als die Frau mit dem Vorwurf konfrontiert wird, scheint sie zu erschrecken. Sie nuschelt stark und erwidert: «Oh mein Gott, sagst du das gerade zu mir? Shit.» Die Kamera wendet sich nun einem möglichen Zeugen zu: «Entschuldigen Sie. Sie waren gerade hier und haben das Ganze erlebt: Hat sie uns gesagt, dass wir in unsere ‹Hood› zurückgehen sollen?» Der Zeuge bestätigt den Vorwurf: «Ja. Sie hat.»
At the dog park in Brooklyn with my fiancé and this white woman was threatening to call police and told us to “stay in our hood” because she had our dog confused with another dog who had been barking loudly. So, I started recording and she tried to slap the phone out my hand. pic.twitter.com/9MXwMiU3Qb
— Frederick Joseph (@FredTJoseph) September 26, 2021
Beim filmenden Afroamerikaner handelt es sich um Frederick Joseph. Joseph schrieb den New-York-Times-Bestseller «The Black Friend – on being a better white person». Zuoberst in seiner Twitter-Timeline hängt der Verweis auf sein Buch. Er hat über 100’000 Twitter-Follower. Und die nutzt er auch.
Joseph veröffentlicht das Video auf Twitter und es geht viral. Innerhalb weniger Stunden schauen Hunderttausende den Clip. Es dauert keinen Tag und da haben Josephs Follower die Frau aufgespürt – und auch deren Arbeitgeber, den Hersteller einer Video-Konferenz-Plattform mit Sitz im Silicon Valley. Es kommt zu Gesprächen zwischen Joseph und dem Gründer der Firma. Schon am nächsten Tag twittert dieser eine Entschuldigung und die Entlassung der Frau. Joseph verkündet seinen Erfolg auf Twitter.
Jetzt springen auch Nachrichtenmedien auf den Zug auf. Die «New York Post» macht den Anfang, viele andere folgen. Und jedes Mal wird die Frau mit Namen genannt.
Emma has been terminated. I do hope people learn that there are consequences for their behavior, and take the chance to be better. https://t.co/KbOMWKXS5f
— Frederick Joseph (@FredTJoseph) September 26, 2021
Auftritt Robby Soave. Für den libertären Journalisten kommt der Fall wie gerufen. Denn auch er hat ein Buch geschrieben. Darüber, wie böse die Mainstreammedien sind. Und Suave findet in Josephs Keller die Leiche, die er für sein Narrativ braucht. Doch der Reihe nach.
Soave beklagt, dass eine Frau aufgrund eines nicht-beweiskräftigen Videos entlassen wird. Ob das Video tatsächlich der Hauptgrund für die Entlassung war, bleibt unbekannt. Die Möglichkeit, dass die Frau gegenüber ihrem Arbeitgeber den Ausrutscher zugab, wird nicht in Erwägung gezogen. Soave behauptet hingegen, ihr Boss wisse nicht, was sich genau zugetragen habe. Als einer der drei Hosts von «The Hill's Rising» darf er mehrere Minuten lang über Cancel-Culture und anderes Unkraut in der heutigen Gesellschaft reden. Schlüsselelement seiner Argumentation ist Josephs Glaubwürdigkeit. Dieser sei ein bekannter Märchenerzähler. Ein Vorwurf, den er mit folgender Anekdote erhärten will:
Im September 2020 mietete Frederick Joseph über Airbnb ein Haus für sich und ein paar Familienangehörige. Dort hätten er und auch sein kleiner Bruder (8) sich aber nicht wohlgefühlt. Das Haus sei gespickt gewesen mit Tierschädeln, okkulten Malereien und Hinweisen auf satanistische Riten. Auch in diesem Fall teilt Joseph die Empörung direkt auf Twitter. Die geteilten Fotos und ein Video zeigen eine kleine Baphomet-Statue (hinter einem toten Vogel in einem Plastiksack), einen Aufzieh-Hund, der eine Frau penetriert, ein Glas, auf dem Dämonen Menschen kochen, und zwei Fotos einer Frau und eines Jünglings oben ohne.
We just drove three hours my 8-year-old brother for a getaway and the house we arrived at ended up having seemingly satanic items and stuff for witchcraft rituals.
— Frederick Joseph (@FredTJoseph) September 7, 2020
We had to leave because my brother (and the rest of us) were frightened. But @Airbnb won’t refund me. (THREAD) pic.twitter.com/3AlECcEpmE
Die Vermieter boten an, die paar provokativen «Kunststücke» zu entfernen, Joseph hingegen sah das gesamte Haus voll damit und verliess das abgelegene Anwesen fluchtartig. Man kann sich durchaus fragen, weshalb in einem auch von Familien mietbaren Objekt ein «Spielzeug» mit Sodomiedarstellung aufgestellt werden und ausgerechnet ein toter Vogel das Maskottchen der zweitgrössten Satanskirche (sie ist allerdings atheistisch) der USA verstecken muss. Doch offensichtlich ging bei Joseph auch die Fantasie durch.
Vice kontaktierte den Vermieter. Er offerierte den Journalisten eine Videotour durch das Haus. Die Journalisten konnten dabei keine Hinweise auf satanische Rituale erkennen. Auch die erwähnten Bodenbemalungen sind nicht viel mehr als Farbflecken. Einige von Josephs Vorwürfen haben durchaus Hand und Fuss, andere sind weniger nachvollziehbar.
Zurück zu Robby Soave. Dieser erzählt die Airbnb-Story sehr einseitig. Er erwähnt dabei die kleine Statue, «leichte Pornographie» und Josephs Bruder, verschweigt aber, dass es sich dabei um ein Kind handelt, die Sodomiedarstellung und dass es sich bei einer Fotografie tatsächlich um ein Werk einer Satanistin handelt.
Lachend zeichnet Soave ein Bild von Joseph von einem klassischen Snowflake, der aus einer Mücke einen Elefanten macht. Ein Bild, das in konservativen Kreisen zusammengebrochen wäre, hätte er sämtliche Karten auf den Tisch gelegt. Denn dort wird Sodomie für Kinderaugen ganz und gar nicht goutiert.
Es ist kein Zufall. Auch Soaves Artikel auf reason.com verschweigt genau diese entscheidenden Details. Dann lenkt er elegant über, um mit abgedroschenen Floskeln Werbung für sein Buch zu machen.
Zwei Storys, zwei Protagonisten, die genau wissen, wie man eine Story erzählen muss, um die gewollte Wirkung zu erzielen. Aber ausser viel Spekulation, Zeter, Mordio und Vorwürfen haben beide Storys wenig Fleisch am Knochen. Viel Lärm um nichts. Statt Fakten dominieren dezidierte Meinungen. Doch genau diese ersparen wir uns. Wir wissen einfach zu wenig. Sowohl im einen wie auch im anderen Fall. Übrig bleibt nur die Erkenntnis: Wer mit Kanonen auf Spatzen schiesst, wirbelt wenigstens viel Staub auf.