Es gibt Mädchenträume und Mädchenträume. Die einen lieben Pferde, die anderen wollen sich als Nixe verwirklichen, ein paar wollen ins Fernsehen und einige träumen davon, «Christkind» zu sein. Zum Beispiel in Nürnberg. Zum Beispiel auf dem Nürnberger Christkindlesmarkt, dem berühmtesten Weihnachtsmarkt der Welt. Zwei Millionen Besucher zieht er jährlich an und füllt er ab, es gibt Sonderzüge und Spezialflüge, es ist der ultimative Glühwein-, Bratwurst- und Glitzer-Hit der Vorweihnachtszeit.
Und das Christkind? Eröffnet ihn mit einem sogenannten Prolog, danach hat es bis Weihnachten 100 bis 200 Termine, besucht Kindergärten, Spitäler, Obdachlosen- und Altersheime und natürlich den Markt, hat eine Sekretärin und drei Fahrer. Es muss weiblich, zwischen 16 und 19 Jahren und mindestens 1,60 gross sein. Gewählt wird es für zwei Jahre, von der Bevölkerung und einer Fachjury. Seit 1969 ist das so. Davor spielten professionelle Schauspielerinnen das Christkind.
Heuer hat sich die überwältigende Mehrzahl der Nürnbergerinnen und Nürnberger für Benigna Munsi entschieden. Für eine 17-jährige Schülerin, die in Nürnberg zur Welt gekommen ist, die mehrere Instrumente und Theater spielt, Katholikin, Ministrantin und Fussballerin ist oder, so die «ZDF heute Show», «deutscher als Heino».
Die AfD sieht das anders. Denn Benignas Vater ist Inder und arbeitet im Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. Was den AfD-Kreisverband München-Land dazu verleitete, auf Facebook zu posten: «Nürnberg hat ein neues Christkind. Eines Tages wird es uns wie den Indianern gehen.» Den Indianern? Also «uns» bedrohten urdeutschen Indianern, die bald unter Anführung einer Halbinderin in Reservate getrieben werden? Führer-Fantasien mal andersrum. Und logisch, dass Nürnberg dafür der place to be ist.
Erinnern wir uns: In Nürnberg wurden Hitlers Reichsparteitage abgehalten und von Leni Riefenstahl verewigt. In Nürnberg beschloss der stramm nationalsozialistische Bürgermeister Liebel 1933, den Christkindlesmarkt, der jahrelang vor den Toren der Stadt stattgefunden hatte, auf den Hauptmarkt zurückzuholen. Ausgelagert worden war er, so Liebel, von den Juden, die ihn nicht mehr an der Stelle des ehemaligen jüdischen Ghettos hätten sehen wollen.
Tatsächlich war der Hauptmarkt bis Mitte des 14. Jahrhunderts einmal Zentrum des jüdischen Ghettos gewesen. Dann wurde dieses in einem Pogrom zerstört und 600 Juden auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Dort, wo heute die Frauenkirche über dem Christkindlemarkt prangt, stand einst die Synagoge. Ausgelagert wurde der Markt sehr viel später, allerdings nicht aus jüdischer Rache, sondern weil er zu erfolgreich war und sich die anderen Markttreibenden beschwerten, dass sie in der Weihnachtszeit keinen Platz für ihre normalen Gemüse- und Warenstände mehr hatten.
Wieso war der Christkindlesmarkt überhaupt erfunden worden? Weil die Reformation die Nürnberger Kinder um den Nikolaus gebracht hatte. Dieser war nämlich nicht nur für die Züchtigung, sondern auch für die Bescherung der Kinder zuständig gewesen, doch Luther lehnte die Verehrung des Heiligen St.Nikolaus ab. An seine Stelle trat ein blondlockiges Engelmädchen, das fortan für den Geschenketransport und damit das wirtschaftliche Wohl protestantischer Gebiete zur Weihnachtszeit verantwortlich war.
1933 wurde der Prachtsplatz mitten in Nürnberg selbstverständlich zum «Adolf-Hitler-Platz», und damit man den Führer auch so richtig im besinnlichen Lichterglanz besingen konnte, wurde flugs das Christkind inthronisiert.
Und weil es sofort so beliebt bei Gross und vor allem Klein war, wurde es nach dem Krieg übernommen. Dann natürlich nicht mehr mit Heil-Hitler-Prologen, sondern nachdenklicher Nachkriegslyrik.
Und da sind wir nun. Mit Benigna Munsi als Engelfrau im Weihnachtsornat. Sie ist nicht das erste Nürnberger Christkind mit Migrantionshintergrund, 2000 und 2001 war das schon die Spanierin Marisa Sanchez, aber damals waren weder die sozialen Medien noch die AfD am Start. Damals war Sanchez einfach ein Nürnberger Mehrheitsentscheid und fertig.
Und heute? Muss Benigna Munsi an einer Pressekonferenz gegen den AfD-Post Stellung nehmen: «Es tut mir leid für die Menschen, die mit so einer Sicht durch die Welt gehen und sich nicht auf das fokussieren können, was wirklich wichtig ist. Gerade in der Weihnachtszeit», sagt sie. Die Bevölkerung ist auf ihrer Seite. «Ich habe jetzt gelernt, was ein Candy-, ein Love-, ein Honeystorm ist», sagt sie.
Der bayrische Ministerpräsident, der bayrische Innenminister, der Erzbischof von Bamberg und selbstverständlich auch der Bürgermeister von Nürnberg sagen ebenfalls sehr viel.
Natürlich wird der Indianer-Post entfernt. Und auch derjenige des IT-Redakteurs der AfD-Fraktion im Deutschen Bundestag, der schrieb: «Ein Christkindl, dem man die fremde Herkunft an der Nasenspitze ansehen kann, ist ein Schlag ins Gesicht aller Freunde von Tradition und gewachsener Kultur.»
Herzlichen Glückwunsch an Benigna Munsi zu ihrer Wahl als neues Nürnberger Christkind. Ich freue mich sehr für sie. Umso schäbiger ist das Verhalten einzelner AfD Funktionäre. Diese Hetze dürfen wir nicht zulassen. #Christkind
— Markus Söder (@Markus_Soeder) November 1, 2019
"Meine Freude darüber, dass ich Christkind geworden bin, ist nicht zurückgegangen
— Claudia Kade (@claudia_kade) November 3, 2019
Ich habe jetzt gelernt, was ein Candy-, ein Love-, ein Honey-Storm ist“
Benigna Munsi, 17 Jahre
unbeeindruckt vom Hass
großartig, diese Kraft@welt https://t.co/8Gg8wMzIZO
Und: Die AfD entschuldigt sich. Der Administrator, der den Post verfasst hat, lässt ausrichten, als Familienvater sei er am Boden zerstört und gebe zu, einen schlimmen Fehler begannen zu haben. Er habe sich inzwischen mit Munsis Hintergrund vertraut gemacht und halte die Vorzeige-Migrantentochter und Katholikin für ein Vorzeige-Christkind. Es stecken nun mal einfach zu viele der AfD Werte in Benigna Munsi, deren Geschichte ganz Deutschland rührt. Der Kreisverband schreibt Versöhnliches:
«Herzlichen Glückwunsch vom Kreisverband AfD München-Land an das neue Nürnberger Christkind Benigna Munsi! In einem früheren Post hatte einer der Redakteure die Wahl kritisiert, weil er sich aus der Gewohnheit heraus das Christkind anders vorgestellt hatte. Dieser Post entspricht nicht den Werten der AfD und ist sofort entfernt worden. Der Redakteur betont, dass er niemanden beleidigen oder herabwürdigen wollte und ist umgehend zurückgetreten.»
Und so wird Benigna Munsi Ende 2019 was Greta Thunberg schon seit Anfang dieses Jahres ist: ein Mädchen als Symbolfigur für eine Welt von morgen. Auch wenn Benigna Munsi sich dazu als Figur von vorvorgestern verkleiden muss. Am 12. November tritt sie zum ersten Mal in ihrem Kostüm vor die Kameras. Es ist mit den Kostümen ihrer Vorgängerinnen identisch. Aber etwas ist jetzt anders.
Hä? In welcher Realität nicht?
Dass die bei der AFD überhaupt Weihnachten feiern, ist ja schon irgendwie lustig.