Bis vor kurzem hatte ich noch nie etwas von Zebulon Simentov gehört. Sein Name begegnete mir in einem Wikipedia-Artikel über die Vertreibung von Juden aus arabischen und anderen islamischen Ländern: 1948 gab es demnach rund 5000 Juden in Afghanistan, 2008 jedoch nur noch einen einzigen – nämlich Simentov.
Hinter der Diskrepanz dieser Zahlen – sie ist übrigens in Ländern wie Algerien oder dem Irak noch bedeutend krasser – steckt eine wenig bekannte Geschichte. Es ist der jüdische Exodus aus der islamischen Welt, der nach der Gründung Israels begann und sich seither nahezu komplett vollzogen hat. Aber auch hinter dem Namen Simentov verbirgt sich eine Geschichte – eine skurrile, aber auch bittere Biographie.
Simentov wurde – je nach Quelle – 1959 oder 1960 in Herat geboren, der zweitgrössten Stadt Afghanistans. 1980 zog er nach Kabul und bestritt seinen Unterhalt als Teppich- und Antiquitätenhändler. Allmählich wurde es einsam um ihn: Die meisten in Afghanistan verbliebenen Juden verliessen das Land nach der sowjetischen Invasion 1979, und auch seine eigene Familie – seine Geschwister, seine Frau und seine beiden Töchter – wanderten irgendwann nach Israel aus. Simentov blieb.
«Ich bleibe, weil ich mich um die Synagoge kümmern muss», sagte er der «Times of Israel». «Wäre ich nicht hier, wäre das Grundstück schon verkauft worden.» Ein jüdischer Friedhof in der Nähe von Kabul sei bereits zerstört und das Land verkauft worden. Ausserdem will Simentov die jüdische Gemeinde in Afghanistan – die auf ihn selbst zusammengeschrumpft ist – lebendig erhalten.
Überdies spricht Simentov kein Hebräisch. «Ich bin ein Afghane. Warum sollte ich in einem anderen Land leben?», fragte er kürzlich deutsche Journalisten, die ihn in Kabul besuchten. Kommt hinzu, dass seine Frau, die jetzt in der Nähe von Tel Aviv lebt, sich von ihm hat scheiden lassen.
Das zweistöckige Gebäude in der «Gasse der Blumenverkäufer» im Zentrum von Kabul, in dem sich die Synagoge und Simentovs Wohnung befinden, ist baufällig; die Farbe blättert von der Fassade ab, die Fenster sind geborsten. Seinen Teppichhandel musste Simentov 2001 nach einem Überfall der Taliban aufgeben. Er sagt, damals habe er seine gesamte Habe verloren. Heute führt er ein Kebab-Restaurant namens «Balkh Bastan» in der Synagoge.
Die Einkünfte daraus reichen allerdings nicht. Simentov bessert sie als Juwelierhändler auf, obendrein erhalte er manchmal Spenden aus Israel und Zuwendungen von muslimischen Familien, die ihm wohlgesinnt seien. Und er lässt sich für Interviews bezahlen.
Obwohl er allein ist – nur selten erhält er Besuch von Glaubensgenossen auf der Durchreise –, hält sich Simentov nach eigenem Bekunden an die religiösen Vorschriften. Er bete jeden Tag und halte die jüdischen Speisegesetze ein. Da es in Afghanistan allerdings keinen ausgebildeten Schochet (jüdischer Metzger) mehr gibt, hat Simentov vom Rabbi in Taschkent (Usbekistan) eine Sondererlaubnis erhalten, selber Tiere zu schächten.
Simentov hat ein gutes Verhältnis zu seinen muslimischen Nachbarn, die ihn meistens einfach «den Juden» nennen. In der Vergangenheit erlebte er allerdings gefährliche Situationen: Als die Taliban 1996 Kabul eroberten, verhafteten sie ihn und hielten ihn drei Wochen gefangen. «Sie dachten, ich sei ein Missionar, der die Leute zum Christentum bekehren wolle. Als sie merkten, dass ich ein Jude bin, liessen sie mich gehen.»
Zebulon Simentov, the last Jew of #Afghanistan. His whole fam lives in #Israel while he says Afg is his only homeland pic.twitter.com/aJKFcIVizM
— Emran Feroz (@Emran_Feroz) July 29, 2014
Ärger mit den Taliban hatte Simentov auch später – nur war er zu guten Teilen selbst schuld daran. Damals war er nämlich nicht der einzige Jude in Kabul, da gab es noch Isaak Levi. Und hier nimmt die Geschichte vollends eine Wendung ins Groteske: Simentov und Levi hielten nicht etwa zusammen, sondern waren einander in erbitterter Abneigung verbunden. So weit ging die Feindschaft der beiden letzten Juden
Afghanistans, die beide in gesonderten Teilen der Synagoge lebten, dass sie sich wechselseitig bei den Taliban als Mossad-Spione oder Bordellbetreiber denunzierten. Beide bezahlten ihre Verleumdungen mit Schlägen und zeitweiliger Haft, überlebten aber das Taliban-Regime, das Kabul bis 2001 beherrschte.
Anfänglich war das Verhältnis der beiden Männer nicht so schlecht gewesen. Der etwa 30 Jahre ältere Levi, der ebenfalls aus Herat stammte, aber früher nach Kabul gekommen war, empfing Simentov freundlich. Erst ein paar Jahre später entzündete sich ihr Streit: Simentov soll Levi empfohlen haben, nach Israel auszuwandern, weil das Klima dort für einen alten Mann besser sei. Levi lehnte ab und witterte eine unlautere Absicht hinter Simentovs Fürsorglichkeit – er glaubte, dieser wolle die Synagoge übernehmen.
Danach beteten beide nur noch getrennt und lieferten sich immer wieder üble Wortgefechte, die so laut waren, dass die Nachbarn sie im weiten Umkreis vernehmen konnten. Beide sahen sich als rechtmässigen Schamasch (jiddisch Schammes; Verwalter) der Synagoge; sie beschuldigten einander auch, eine wertvolle Tora-Rolle gestohlen zu haben.
Ihr Zwist war so erbittert, dass die Polizei nach Levis Tod 2005 zuerst Simentov verdächtigte, den alten Mann umgebracht zu haben. Erst die Autopsie entlastete ihn; sie ergab, dass Levi an Diabetes gestorben war. Selbst viele Jahre später macht Simentov keinen Hehl daraus, wie sehr er seinen einstigen Rivalen verabscheute: «Er war alt. Er war ein schlechter Mensch. Er wollte die Synagoge verkaufen.»
Irgendwann wird Zebulon Simentov nicht mehr da sein. Mit ihm wird die vermutlich schon 2500 Jahre andauernde jüdische Präsenz in Afghanistan ihr Ende finden.