Florian Winter ist sexsüchtig, seit er 20 Jahre alt ist. Die meiste Zeit davon realisierte er nicht, dass er süchtig war. Süchtig nach Pornos, nach den Orgasmen durch Selbstbefriedigung und Bordellbesuche. Er verdrängte, dass seine permanente Lüsternheit, wie er es selbst bezeichnet, sein Leben bestimmte. So sehr, dass aus der Lust ein Zwang wurde. Aus der Sexualität eine Krankheit, die ihn isolierte, seine Beziehungen und seine Familie zerstörte.
Florian Winter heisst anders, seine Geschichte aber ist wahr. Er hat sie in einem Comicband festgehalten. «XES» ist ein beklemmendes, rauschhaftes Werk. Es sind kurze, kleine Episoden, mit schnellem Strich skizziert, eine Suchtbiografie in Bildern. Die Veröffentlichung seiner Geschichte sei der letzte Schritt auf seinem Weg aus der Sucht gewesen, erzählt er am Telefon. Das Erstaunliche: Der Comic kommt ohne erotische Darstellungen aus. Kein Penis, kein Busen ist je sichtbar. Die Sexsucht hat darin aber eine Farbe: Rot. Bedrohlich, gefährlich lauert sie immer wieder in Schaufenstern oder auf dem PC-Bildschirm. Auch die Augen des Protagonisten leuchten rot, wenn die Sucht von ihm Besitz ergreift, wenn er wie ein Besessener ins Bordell steuert und danach als vor sich selbst gedemütigter Mensch herauskommt.
Die Bordellbesuche waren für Winter stets der Tiefpunkt seiner Sucht, dann, wenn er jegliche Kontrolle verloren hatte. Jedes Mal habe er sich geschworen, dass er so etwas nie wieder erleben wolle. «Und nach einem halben Jahr war ich wieder da. So ist Sucht. Es war eine ziemlich düstere Zeit», erzählt er. Florian Winter ist es wichtig, zu betonen, dass er weder Pornografie noch Bordelle verteufeln will. «Es gibt viele Männer, die sagen, dass nichts dabei sei. Dass sie Pornografie zur Entspannung konsumieren.»
Ein Problem hat er damit, wie sehr Männlichkeit noch immer über eine übersteigerte Sexualität definiert wird. Es ist wie mit allen Süchten: Die Dosis machte es aus. Und das eigene Leiden daran. «Die Sucht beginnt, wenn das Thema Sex – in welcher Form auch immer – das Leben eines Menschen so stark dominiert, dass er das Interesse an anderen Menschen, an lebendigen Beziehungen verliert.» Angefangen hat die Besessenheit von sexuellen Reizen bei Florian Winter mit harmlosen Sexheftchen.
Langsam, Schritt für Schritt, haben sich seine Fantasien weiterentwickelt, sind immer extremer geworden, haben eine Richtung eingeschlagen, die ihm selbst fremd vorkam. «Das war nicht mehr ich. Ich habe mich geschämt, fand mich selbst abstossend.» In dem Augenblick sei ihm klar geworden, dass er etwas unternehmen müsse. Dass er sexsüchtig war, wusste der Berliner Illustrator damals noch nicht.
Dass das krankhafte Verlangen nach Sex überhaupt als Sucht bezeichnet wird, ist neueren Datums. Erst 2019 hat die WHO ein neues Klassifikationssystem von Krankheiten verabschiedet, es wird 2022 in Kraft treten. Darin wird Sexsucht erstmals als eigenständige Krankheit beschrieben. Die Ausprägungen sind verschieden, reichen von zwanghafter Masturbation über regelmässiges Fremdgehen bis zu masslosem Pornografiekonsum. Selbst seine Therapeuten – von denen hatte er im Laufe der Jahre einige – hätten bei ihm nie eine Sexsucht diagnostiziert, erzählt der 52-Jährige am Telefon.
Er hat sich auf eine Parkbank gesetzt. Gerade ist er mit seiner vierjährigen Tochter in den Ferien. Das Pseudonym soll vor allem sie schützen. Von Heimlichkeiten hält Winter sonst gar nichts. Seiner Freundin zu sagen, dass er sexsüchtig ist, sei das schwierigste Gespräch seines Lebens gewesen. Doch es hat sich gelohnt, sie ist bei ihm geblieben. «Das Versteckspiel war ein Teil meiner Sucht. Lücken für Pornografie zu finden, bestimmte meinen Alltag. Dauernd war die Frage im Kopf: Wann habe ich wieder Zeit, mir diese Bilder anzuschauen? Es war ein ungeheuerlicher Druck.» Die Szene im Comic, in der seine kleine Tochter in der Badewanne nach ihm ruft, während er vor dem roten Bildschirm, den Pornos, nicht wegkommt, ist eine der beklemmendsten im Comicband.
Untersuchungen zeigen, dass ein bis fünf Prozent der Menschen von Sexsucht betroffen sind. Rund zwei Drittel davon sind Männer. Im Nachwort zum Comic von Winter schreibt Kornelius Roth, Psychiater und Autor des Buches «Sexsucht», dass man davon ausgehe, dass je beziehungsbezogener sexuelle Befriedigung stattfindet, desto suchtärmer sei sie. Je anonymer, etwa durch One-Night-Stands, Pornografie, desto suchtanfälliger.
«Denn Sexsucht entsteht nicht aus einem übersteigerten sexuellen Bedürfnis, sondern aus einem nicht erfüllten Bedürfnis nach Kontakt, Beziehung, Wertschätzung», schreibt Roth. Sexsucht ist eine sogenannte Prozesssucht, wie die Spielsucht, da sie nicht auf eine Substanz beschränkt ist. Von ihr loszukommen, ist genauso beschwerlich wie von Alkohol. Auch der Entzug läuft ähnlich ab und orientiert sich stark den Strukturen der Anonymen Alkoholiker.
So waren es dann die regelmässigen Treffen der SLAA, «Sex and Love Addicted Anonymous» – Anonyme Sex- und Liebessüchtige – welche Florian Winter den Weg aus der Sucht gezeigt haben. «Diese Gruppengespräche waren meine Rettung. Plötzlich sitzt du in einem Kreis von Menschen, die genau das Gleiche erzählen und durchmachen. Das war eine Offenbarung und riesige Erleichterung. Aber auch ein sehr langer Weg.»
Der nun veröffentlichte Comic ist der zwölfte und letzte Punkt seines Entzugsprogramms. Die Inventur von dem, was war und was ist. Er selbst mutmasst, dass die Hormonspritzen, die er wegen einer Hodenfehlstellung bekam, der Auslöser für seine fehlgesteuerte Sexualität waren. Er bekam dadurch verfrühte Erektionen. Erst neun Jahre alt, war er überfordert und sehr allein. Niemand habe ihn darüber aufgeklärt. Zumal er in eine Familie mit diversen Suchtkrankheiten hineingeboren wurde.
Nun ist der Comic veröffentlicht, der Prozess abgeschlossen. Als vollständig geheilt will sich Florian Winter nicht bezeichnen. Er sei jetzt auf dem Weg zur Genesung, sagt er. Denn Sexsucht findet vor allem im Kopf statt, ein Rückfall kann überall passieren, jederzeit. Er hat für sich selber Regeln entwickelt. Pornografie etwa ist komplett tabu für ihn. Frauen schaut er nicht länger als drei Sekunden an. Sex mit einer Partnerin ist dann okay, wenn er lustvoll ist und nicht unter Suchtdruck passiert. Dies zu unterscheiden, sei sehr schwierig. Darum gibt es viele Sexsuchtbetroffene, die total abstinent leben. Für Florian Winter ist das keine Option. Das Buch ist für ihn ein Schlusspunkt, doch seine Sucht wird ihn weiterbeschäftigen. Es ist seine Lebensaufgabe.
Die ersten Erektionen passieren bereits im Mutterleib. Was jedoch zu Verunsicherungen führen kann sind verfrühte Ejakulationen.
Der Unterschied ist klein, aber fein.