Es ist ein weitherum unschuldiger Morgen, und im Fernsehen sitzt eine blonde Norddeutsche, die das Leben vor vierzehn Jahren nach Herrliberg verschlagen hat. Worüber liest sie gerade? Über eine Analrasur? Okay? Sie ist Zahnärztin in Erlenbach, alles ganz clean, aber wenn es dunkel wird über der Goldküste, wird es in Corinna T. Sievers, 52, eiskalt und düster. Dann schreibt sie Ärztinnenromane. In denen es meist und explizit um Sex geht.
Sie heissen «Samenklau» oder «Die Halbwertszeit der Liebe». Ohne Kitsch und anatomisch überaus anschaulich. Das Naturell eines Skalpells. Interessant. Und richtig gut. So auch die Geschichte mit dem Titel «Der Nächste, bitte!» (hier geht's zum Text), die sie am Klagenfurter Bachmann-Preis vorliest, dem einzigen, seit Jahren im Fernsehen übertragenen Literatur-Event im deutschsprachigen Raum. Wir treffen uns direkt nach dem Wettbewerb (sie erhielt am Ende keinen der fünf Preise) in Zürich.
Frau
Sievers, in Ihrem Beitrag zum Bachmann-Preis beschreiben Sie klar, kühl und klinisch den Alltag einer
erotomanen Zahnärztin, die mit den meisten ihrer Patienten Sex im
Zahnarztstuhl hat. Nach Ihrer Lesung war’s sehr interessant: Juroren halluzinierten über
Termine bei Ihnen ...
Ja, da wurde auf der Bühne ganz klar die Autorin
mit ihrer Figur verwechselt. Eigentlich ein Skandal, für mich auch eine
enttäuschende Reaktion, weil es mir ja um Literatur geht. Und darum, die Kraft
der weiblichen Sexualität darzustellen.
Von der
es prompt hiess, sie sei ja nur die Kopie einer Sexfantasie, wie man sie von
männlichen Autoren kenne.
Wieso sollte ich etwas kopieren, das mich gar
nicht interessiert? Es ging mir nicht um die Männer, es ging mir um uns Frauen.
Meinetwegen könnte man sagen, dass die weibliche Sexualität der männlichen in
nichts nachsteht. Sexistische Reaktionen sind mir danach übrigens auch anderswo begegnet, zum
Beispiel auf Facebook von ganz gestandenen Literaturkritikern, die sich dort
tief unter der Gürtellinie ausgelassen haben.
Was die gleichen Herren ja aber bei einem Autor wie Martin Walser oder Michel Houellebecq, die sehr
explizit über männliche Sexualität schreiben, nie tun würden.
Niemals! Niemals würde auch das Anliegen an
einen männlichen Schriftsteller herangetragen werden, dass man nächste Woche
gern seine erotischen Dienste in Anspruch nehmen würde.
Der
Text beginnt damit, dass die Zahnärztin mit Fingern und Geräten in den Mund
eines Patienten eindringt und darüber allmählich die Fassung verliert. Sein
Mund ist, was die Vagina in einem Porno ist. Das Zeichen: Hier geht es ins
Objekt der Begierde hinein. Und so geht es dann auch in aller Deutlichkeit
weiter. Hatten Sie irgendwann Skrupel, den Text vor einem grossen, anonymen
TV-Publikum zu lesen?
Ich weiss nicht, ob es auffiel, aber ich hab
mir zur Lesung eine Art Burka angezogen. Das längste, düsterste Kleid, das zu
haben war, es ging bis zu den Knöcheln und die Arme waren bedeckt. Ich hab auch
eine grosse Brille angezogen, damit tatsächlich nicht irgendwie der Eindruck
entsteht, ich wollte da jemanden verführen mit diesem Text. Porno ist
normalerweise kein Begriff, den ich mit meinen Texten assoziieren würde, aber mir
hat ganz gut gefallen, dass jemand aus der Jury sagte: Es ist wie bei einem
Porno eine gewisse Abgeschlossenheit. Eine kurze Geschichte wird erzählt, sie
hat ihren Höhepunkt, dann ist sie auch schon wieder zu Ende.
Während
Ihrer Lesung zoomte die Kamera auf Ihre Manuskriptseiten, auf denen
ganz viel farbig angezeichnet war. Das war wunderbar im Einklang mit der
Präzision Ihres Textes. Etwa eine leichte Déformation professionnelle?
Das stimmt, das war wohl so eine zahnärztlich
sorgfältig vorbereitete Herangehensweise.
Über
einer Seite stand «kühl», über einer andern «hart bleiben». Wozu?
Ich wollte mit einem nüchternen Ton daran
herangehen, nicht mit einem märchenhaften und mädchenhaften, wie es mir beim
Üben immer passierte. Die Figur besitzt eine Härte und die wollte ich auch
rüberbringen. Schliesslich macht sie den Mann zu einer Puppe. Es ist mir
allerdings nicht ganz gelungen, trotz all der Appelle an mich selbst.
Tagsüber
sind Sie Zahnärztin, Ihre bestimmende
Farbe ist weiss, nachts schreiben Sie darke Ärztinnenromane ...
... zwischen Mitternacht und ein Uhr bin ich
so richtig in Form.
Was
interessiert Sie?
Mich interessiert das Scheitern der
Geschlechter aneinander und mich interessiert das Scheitern des Einzelnen an
der Liebe, welche Abgründe da zu Tage kommen. Wir scheitern ja alle an der Schwierigkeit,
erfolgreich zu lieben. Mich interessiert, welche Macht die Sexualität über uns
hat, obwohl wir uns an der Oberfläche zivilisiert geben, wie zerstörerisch sie
sein kann. Wie eine Frau durch ihre Sexualität beschädigt werden kann. Das
andere, woran wir scheitern, ist das Sterben. Dass wir das nicht abschaffen
können.
Erfolgreich
zu lieben oder erfolgreich zu leben?
Erfolgreich zu leben ist ja, wenn man sich
keine harten Brüche in der Biografie erlaubt, nicht so schwierig. Ich meine
schon zu lieben.
Wieso
scheitern die Geschlechter eigentlich so hart aneinander?
Unser Problem ist die Monogamie. Weil uns die möglicherweise
doch nicht für Jahre oder Jahrzehnte in die Wiege gelegt worden ist.
Hat uns
das Diktat der Monogamie verkrüppelt?
Das hat sich bei uns so eingeschlichen. Einige
Jahrhunderte zuvor war es viel weniger zwingend, so monogam zu sein.
Auch
für Frauen?
Ich weiss nicht, wie das auf der Ebene der
Bauern oder Handwerker war, aber im Adel war es normal, das Frauen untreu waren
im Laufe ihrer Ehen. Biedermeierhaft wurden wir erst im 19. Jahrhundert und
sind es bis heute geblieben. Ich bin ja selbst nicht frei davon, ich wäre sehr
enttäuscht über Untreue. Das sitzt einem ja so tief in den Knochen, dass man
jemandem begegnen will, der für immer treu bleibt. Und diese Erwartungshaltung
lässt uns scheitern. Gar nicht mal so sehr die Verschiedenheit der Geschlechter,
die seh ich nicht so sehr als Problem. Und Sie?
Aus
Erfahrung? Schon. Ich hatte zwar gerne Sex mit Männern, aber beziehungsfähig
bin ich nur mit Frauen. Wenn ich mit Männern zusammen war, wurden die Komplexe
mitgeliefert. Ich hatte immer das Gefühl, nicht zu genügen, meistens auf einer
körperlichen Ebene.
Ist das im Zusammensein mit Frauen anders?
Ja.
Das ist ja sehr interessant. Besteht jetzt ein
Gefühl des Ungenügens zu 70 Prozent weniger oder gar nicht mehr?
Nicht
mehr.
Weil? Die Defizite, die man besitzt, bei der
andern ein Stück weit Normalität sind?
Wahrscheinlich?
Aber wieso sind wir so? Wieso ist dieses Gefühl
des Ungenügens gegenüber Männern so permanent vorhanden? Sind wir so erzogen,
dass wir einem Prinzessinnenbild entsprechen müssen, sind da unsere Eltern dran
schuld?
So gern
ich die Schuld bei meinen Eltern suchen würde – meine können nichts dafür. Und
Ihre?
Meine Mutter hat mir auch in keinster Weise
eine perfekte Gestalt oder sowas abverlangt. Sie war auch äusserst eigenwillig,
war so trotzig in ihrem Erscheinungsbild.
Was
meint sie eigentlich zu Ihren Büchern?
Meine Mutter ist vor kurzem gestorben. Sie hat
mich immer unterstützt, sie fand das toll und sagte mir, sie wollte, sie wäre
so frei gewesen. Mein Vater findet gut, dass ich schreibe, aber inhaltlich
passt ihm das überhaupt nicht. Meinem Ehemann ebenfalls nicht, aber er gibt mir
den Freiraum und nimmt mir viel ab. Und meinen Kindern am wenigsten. Die sagen:
«Kannst du nicht mal schöne Reisebücher schreiben?» Meine Mitarbeiter ...
Bisher hatte ich das Gefühl, sie stehen hinter mir, aber ich war jetzt seit
Klagenfurt noch nicht in der Praxis, jetzt muss ich sehen, ob es da nicht eine
Betroffenheit gibt. Heute Morgen haben sie mir erzählt, es seien eine Menge
Mails als Reaktion auf Klagenfurt reingekommen.
Was für
Mails?
Solche, die nicht in mein Sekretariat gehören.
Schlüpfrige Kommentare von Männern.
Kenn
ich. Zuerst sind sie lobend, dann ein bisschen vernichtend, dann heisst es:
«Ich glaube, es wäre interessant für dich, dies mal mit mir bei einer Flasche
Wein zu besprechen.»
Es ist lustig, wie sie immer in einer Schlaufe wieder
zu sich selbst kommen. Es ist sexistisch zu sagen: typisch. Aber es ist eine
typisch männliche Hybris. Und man wundert sich über dieses Selbstbewusstsein,
dass sie davon ausgehen, man interessiere sich für sie!
Themenwechsel:
Ich habe noch nie mit jemandem geredet, der so richtig an der Goldküste zuhause
ist. Wie ist das denn dort so?
Schriftstellerisch ist es natürlich sehr
ergiebig, weil die Fassade so schön ist ...
... und
das Dahinter so abgründig?
Genau. Vielleicht sollte ich nicht sagen «der
Morast», aber ich sag trotzdem Morast. Die Berufstätigkeit der Frauen ist
äusserst gering, ich würde sagen, wir befinden uns da etwa in den 50er-Jahren.
Das macht mir natürlich Sorgen für die Mädchen, die dort aufwachsen, weil sie
denken, das ist die Normalität. An mich als Ärztin sind die Ansprüche der
Patienten sehr hoch. Sie sind es natürlich gewohnt, Dienstleistungen
einzufordern. Aber es ist ein gemischtes Publikum, es sind ja nicht nur die
Reichen, sondern auch diejenigen, die den Reichen zuarbeiten, die braucht es ja
auch, die Gärtner und Kindermädchen. Auch deren Kinder kommen zu mir in die
Behandlung. Darüber bin ich sehr froh. Aber sonst findet das Leben schon in
einer Blase statt. Ich wollte auch mal einen Goldküsten-Gesellschaftsroman
schreiben.
Danach
müssten Sie wohl umziehen.
Das muss man den Leuten zu Gute halten: Es
gibt relativ wenig soziale Kontrolle. Es sind schon eher Individualisten, die
da leben. Ich dachte als nächstes an die Geschichte eines Kunstfehlers, an
einen Arzt, der einen Kunstfehler begeht und sich in Lügen verstrickt. Das
liesse sich gut mit einem Gesellschaftsroman kombinieren.
Doch
zuerst erscheint jetzt im Herbst der Roman, aus dem Ihr Klagenfurter Text ein
Auszug war. Da sich Ihr Mann inhaltlich nicht so sehr für Ihre Bücher
interessiert – wer ist Ihre literarische Vertrauensperson?
Mein Verleger, Joachim Unseld. Er ist auch
mein Lektor. Er ist sowas wie die bessere Variante meines Gehirns. Und er ist
auch Erotomane. Er versteht das.
Auch?
Wie meine Figur.