Zwischen Chaos und Kontrolle – Kneebody bringt das Pflegidach zum Beben
Ein explosiver Auftakt
Kaum haben die ersten Töne von „Reach“ eingesetzt, bebt der Raum. Das Publikum spürt sofort: Hier wird kein gewöhnlicher Jazzabend geboten. Bassist Nate Wood spielt gleichzeitig Bass und Schlagzeug, eine Leistung, die allein schon staunen lässt. Die Bässe donnern, das Schlagzeug peitscht, das Saxophon dröhnt über allem. Trotz der Lautstärke ist nichts chaotisch: Jeder Ton sitzt, jede Wendung hat Richtung. Es ist Musik, die einen überrollt und gleichzeitig mitreisst.
Mit „Top Hat“ von Trompeter Shane Endsley bleibt die Energie hoch. Das Stück beginnt mit einem wuchtigen Schlagzeugeinstieg, der sofort in ein fast schon Drum’n’Bass-artiges Feuerwerk übergeht. Keyboarder Adam Benjamin legt mysteriöse Klänge darunter, die an alte Arcade-Spiele erinnern. Trotz der Wucht bleibt das Zusammenspiel erstaunlich locker, fast wie die Gelassenheit im Sturm. Trompete und Schlagzeug liefern ein energetisches Wechselspiel, während Saxophonist Ben Wendel mit einer kantigen Melodielinie Struktur in den Klangsturm bringt.
Klangexperimente mit Gefühl
Bei „Another One“ wechselt die Stimmung. Der Klang wird dunkler, geheimnisvoller, schon fast filmisch. Keyboard und Trompete bauen eine dichte Atmosphäre auf, die an eine Gruselachterbahn erinnert: rasant und unvorhersehbar, aber nie bedrohlich. Die Musiker tauschen während des Spiels kurze Blicke und Lächeln. Man merkt, wie gut sie sich kennen. Trotz der Komplexität wirkt nichts angestrengt. Es ist Jazz, der Spass macht, ohne langweilig zu werden.
„Lo-Hi“ beginnt ruhig und geheimnisvoll. Sanfte Keyboardtöne, ein leises Saxophon, zarte Trompetenphrasen. Als würde ein Morgennebel aufsteigen. Doch dann kippt der Song: Plötzlich klingt alles nach Sonnenaufgang, nach einem Spaziergang an der Strandpromenade. Die Musiker wirken gelöst, improvisieren mit einem Selbstverständnis, das ansteckt. Das Publikum lächelt, wippt mit, lässt sich treiben.
Rhythmus und Risiko
Mit „Repeat After Me“ kehrt die Wucht zurück. Schnelle Trompete, ein treibender Beat, vibrierendes Keyboard. „Mission Impossible“-Energie trifft auf „Ocean’s Eleven“-Stimmung. Saxophon und Trompete wechseln sich ab, erzählen musikalische Geschichten, die gleichzeitig urban und verspielt klingen. Die vier Musiker kommunizieren mit Blicken und Gesten, als führten sie ein Gespräch in einer Sprache, die nur sie verstehen, und das Publikum darf zuhören.
Dann folgt „Glimmer“. Zart, hell, beinahe schwebend. Das Keyboard klingt wie ein Windspiel, der Bass summt leise darunter, die Trompete haucht, statt zu schmettern. Nach all der Intensität wirkt dieses Stück wie ein Atemzug. Ein Moment des Innehaltens, bevor die Energie wieder explodiert.
Perfekte Eskalation
Mit „Drum Battle“ erreicht der Abend seinen Höhepunkt. Trompete und Saxophon eröffnen im Duett, präzise und locker zugleich. Dann übernimmt das Schlagzeug, wild, fast übermenschlich. Das Keyboard streut elektronische Effekte ein, die an Windspiele oder futuristische Stadtgeräusche erinnern. Gegen Ende steigert sich alles in ein kontrolliertes Chaos, das in einem kollektiven Ausbruch endet. Es ist laut und die Atmosphäre euphorisch.
Eine sonnige Zugabe
Nach anhaltendem Applaus folgt „Say So“ als Zugabe. Ein Stück, das wie ein sonniger Nachmittag klingt. Weicher, entspannter, fast poppig. Keyboard und Schlagzeug beginnen sanft, dann fügen sich Trompete und Saxophon dazu. Es ist Musik, die lächelt: Sie ist warm und leichtfüssig. Ein Abschluss voller Lebensfreude, als würde ein Film enden, bei dem man einfach sitzen bleiben möchte, um noch ein bisschen in der Stimmung zu verweilen.
Kommunikation in Bewegung
Was Kneebody auszeichnet, ist ihre mühelose Kommunikation. Jede Geste, jedes Grinsen, jeder Ton ist Teil eines Dialogs. Diese Band braucht keine Worte, sie versteht sich blind. Zwischen Struktur und Improvisation entsteht etwas, das man selten erlebt: totale Kontrolle im völligen Risiko. Kneebody schafft es, die Grenzen des Jazz zu sprengen, ohne ihn zu verlieren. Ihre Musik ist fordernd und doch zugänglich, laut und doch präzise, experimentell und trotzdem menschlich. Als das Licht im Pflegidach wieder angeht, bleibt ein kollektives Staunen im Raum und das Gefühl, gerade Zeugen von etwas Echtem gewesen zu sein: Von Musik, die lebt, atmet und vibriert.
