Heather Dewey-Hagborg sass «wie jeder New Yorker» bei ihrem Analytiker. Vor ihren Augen hing ein gerahmter Druck, und das Glas im Rahmen hatte einen Sprung. Im Sprung steckte ein Haar. Und Heather Dewey-Hagborg fragte sich eine ganze Analyse-Stunde lang: Von wem stammt wohl dieses Haar? Was ist das für ein Mensch? Wie verrückt ist er?
Das war vor drei Jahren. Die junge Künstlerin, die nicht bekannt gibt, ob sie heute 30 oder 32 Jahre alt ist, verliess die Praxis – und sah plötzlich nur noch Haare, Hautschuppen, Lippenstiftspuren an Gläsern, den Speichel eines Babys, Urin auf öffentlichen Toiletten, gebrauchte Taschentücher, ausgespuckte Kaugummis, Zigarettenstummel, angebissene Esswaren. Dinge, an denen Menschen ihre Spuren hinterlassen haben. Ihre DNA.
Nun ist in den USA nichts einfacher als ein DNA-Test. Es gibt mobile Test-Labore in Kleinbussen oder Wohnwagen, wo ein Instant-Vaterschaftstest ab 299 Dollar kostet. Es gibt Labore, die DNA-Tests unterrichten. Heather Dewey-Hagborg besuchte einen dreiwöchigen Crash-Kurs und lernte, das genetische Material freizulegen und zu analysieren.
Als Kind hatte sie Sherlock Holmes über alles geliebt, sie hat die Gesamtausgabe, die ihr der Vater damals schenkte, noch heute. Jetzt sagt sie, gleiche ihre Arbeit weniger Sherlock Holmes, vielmehr der Laborarbeit neuer Ermittler aus TV-Serien wie «CSI». Und, könnte man anfügen, der wachsamen Aufklärungsarbeit im Zeitalter der technologischen Überwachung, wie sie auch Edward Snowden betreibt. Die Sache mit der Systemkritik, die ist bei ihr sowieso genetisch: Schon als Baby nahmen ihre Eltern sie in Philadelphia mit zu Demonstrationen.
My first protest. Page from the family album: baby Heather, hippie mom and dad:) here's to many more in 2015! pic.twitter.com/3Fm0peMiZT
— Heather DeweyHagborg (@hdeweyh) 4. Januar 2015
Unter der Aufsicht von drei hochqualifizierten Wissenschaftlern testete sie schliesslich die DNA-Spuren, die Fremde irgendwo in der Stadt hinterlassen hatten, so lange, bis sie genügend Informationen gesammelt hatte. Aus einem Kaugummi erfuhr sie Haar-, Augen- und Hautfarbe, Herkunft, Geschlecht, ob die Haare glatt oder gelockt waren, ob der Mensch zu Übergewicht oder Sommersprossen neigte. Bis zu fünfzig Eigenschaften konnte sie herausfiltern.
Sie überarbeitete ein bestehendes 3D-Programm zur Gesichtserkennung (es stammte übrigens von einer Basler Firma), damit dieses nicht nur einzelne Gesichtszüge, sondern ein ganzes Gesicht baut. Diese Daten liess sie von einem 3D-Printer ausdrucken. Es entstanden Totenmasken von unbekannten Menschen, die noch am Leben sind. Sie taufte ihr Projekt «Stranger Visions».
Natürlich haben die posthumanen, postfotografischen Gesichter alle Eigenschaften von 3D-Print-Figurinen: Sie sind roboterhaft glatt und vollkommen symmetrisch, recht künstlich und spooky. Aber derart lebensecht, dass sich ein Besucher einer Ausstellung von Dewey-Hagborg mühelos in seiner Maske wieder erkannte.
Und dann entdeckten die Medien ihr Projekt, zuerst ausgerechnet das «Wall Street Journal», obwohl sie doch «mit der Wall Street nichts zu haben will, es sei denn, um sie zu besetzen». Sie wurde von der BBC interviewt und von CNN, und das war so heftig, dass sie selbst heute ihre Arbeit so wahrnimmt «wie die Medien sie darstellten: als Spektakel».
Aber natürlich war das nicht das Ende. Heather Dewey-Hagborg hatte uns gezeigt, dass wir in Zeiten von NSA, von biometrischen Pässen, Google Streetview, Dronen und all unserem digitalen Kompost ganz einfach viel zu vertrauensselig durch die Welt gehen. Jetzt wollte sie Abhilfe schaffen. 2014 entwickelte sie deshalb «Invisible», das Zwei-Komponenten-Set zur Spurentilgung. Es besteht aus zwei Sprays, der eine heisst «Erase» und besteht ganz einfach aus einem starken Putzmittel, der andere heisst «Replace» und ist ein sogenannter DNA-Noise, ein DNA-Lärm also, der sich aus verschiedener DNA zusammensetzt und eine Einzel-Identifizierung unmöglich macht.
«Invisible» kann man kaufen, entweder online oder seit Anfang 2015 auch in ausgewählten Drogerien und Apotheken, etwa in Holland. Und auf der eigens dafür geschaffenen Seite biononymous.com findet sich auch ein Workshop. Der Molotow-Cocktail von heute heisst also «Invisible». Und klingt ein wenig wie ein unsichtbar machender Zaubermantel aus einem alten Märchen. Oder wie ein Trick, der selbst Sherlock Holmes gröbstes Kopfzerbrechen bereiten dürfte.
Das Fotomuseum Winterthur zeigt bis zum 3. Mai im Rahmen seiner neuen Reihe Situations einen Einblick ins Werk von Heather Dewey-Hagborg.