Die Konfusion nach dem Ja zur Masseneinwanderungsinitiative könnte nicht grösser sein. Niemand hat damit gerechnet, und niemand hat auch nur den Hauch einer Ahnung, wie man mit der neuen Situation zurecht kommen könnte. Gehen wir die einzelnen Positionen durch:
Die SVP ist im Triumph geradezu rührend hilflos. Ihre Vertreter betonen immer wieder, dass die Schweiz kein Mitgliedsland der EU sei. Das lässt sich schwer bestreiten, aber was will man uns damit sagen? Sollen wir den Gotthard zubetonieren, wenn es wirklich knüppeldick kommen sollte? Oder wird die Schweiz künftig Autos und Lebensmittel nur noch in Asien und in den USA einkaufen? Übervater Christoph Blocher hat mittlerweile Interviews vom «Spiegel» bis hin zum letzten Lokalradio gewährt. Gesagt hat er nichts von Bedeutung. Stattdessen beschimpft er abwechslungsweise Welsche und Städter, deutet eine mögliche Rückkehr in den Bundesrat an und stellt immer wieder fest: Die Schweiz ist kein Mitgliedsland der EU.
Die Verlierer möchten die Reset-Taste drücken und das Ja vom 9. Februar auf magische Weise zum Verschwinden bringen. SP-Präsident Christian Levrat und Gewerkschaftsbundpräsident Paul Rechsteiner plädieren für eine neue Verfassungsabstimmung über den bilateralen Weg. Die Grünen wollen derweil energisch die Ecopop-Initiative bekämpfen, in der CVP und der FDP hofft man, dass am Ende des Verhandlungsmarathons ein derart ungeniessbares Paket auf dem Tisch liegt, dass sich das Stimmvolk entsetzt abwendet und wieder zur Vernunft kommt.
Die Wirtschaft befindet sich noch in einer Schockstarre. Nur ihr Hoforgan, die NZZ, geht bereits wieder in die Offensive. Was dabei herauskommt, ist kläglich. NZZ-Wirtschaftschef Peter A. Fischer hat am Samstag unter den Titel «Die Oase darf nicht austrocknen» so ziemlich jedes Klischee des Neoliberalismus der letzten 30 Jahre wiederholt. «Mehr Wettbewerb im Binnenmarkt, bei der Infrastruktur und im Gesundheitswesen oder Verbesserungen im Bildungswesen könnten die Schweiz fitter machen. Aus eigener Kraft gestärkt statt geschwächt werden sollte der flexible Arbeitsmarkt. Usw. usw.» Offensichtlich hat es sich noch nicht bis an die Falkenstrasse herumgesprochen, dass gerade der Frust und die Wut über diese Wirtschaftspolitik ein wesentlicher Grund für das Ja zur SVP-Initiative war.
Einen Schritt weiter geht Beat Kappeler in der «NZZ am Sonntag». Er fordert von der Nationalbank, dass sie die Untergrenze des Frankens aufhebt und von Bund und Kantonen, dass sie die Subventionen für Pendler und Bauern streichen. Kappeler treibt so die neoliberale Logik auf eine absurde Spitze: Er will das Zuwanderungsproblem lösen, indem er die Schweiz nur noch für Superreiche erschwinglich macht.
Auch die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger sind verwirrt. Eine Umfrage des «SonntagsBlick» hat ergeben, dass drei Viertel der Schweizer weiterhin am bilateralen Weg mit der EU festhalten wollen. Dabei ist im Vorfeld der Abstimmung immer und immer wieder darauf hingewiesen worden, dass ein Ja zur Initiative mit grosser Wahrscheinlichkeit auch ein Nein zu den bilateralen Verträgen bedeuten würde. Haben Sie angenommen, nach der Abstimmung wäre dies nicht mehr gültig?
Die EU hat bisher ebenfalls tollpatschig reagiert. Forschungs- und Bildungsabkommen werden in Frage gestellt, die Verhandlungen über das Stromabkommen aufs Eis gelegt. Damit will man Härte gegenüber der störrischen Schweiz demonstrieren – und könnte damit ein formidables Eigentor erzielen. Die Schweiz gerät so in die Rolle einer mutigen Kämpferin gegen die Eurokraten in Brüssel. Das spielt den zahlreichen EU-Gegnern im Vorfeld einer ohnehin schon heiklen Wahl zum Europaparlament in die Hände.
Warum die Konfusion? Ist der kollektive Wahnsinn ausgebrochen oder was? Das Problem wird auf der falschen Ebene mit den falschen Mitteln bekämpft. Die Globalisierung hat dazu geführt, dass sich der Charakter der Weltwirtschaft in den letzten Jahrzehnten verändert hat. Die ETH hat schon 2011 in einer viel beachteten Studie festgestellt, dass inzwischen 147 Konzerne weltweit das Sagen haben, und die Monopolisierung geht munter weiter. Es gibt immer mehr Banken, die «too big to fail» sind, und trotz Krise nehmen die Gewinne der Grosskonzerne nicht ab, sondern zu.
Vor dem Ersten Weltkrieg war die amerikanische Wirtschaft in einer vergleichbaren Situation. Sie war ebenfalls stark monopolisiert, Wirtschaftstycoons wie John D. Rockefeller oder J.P. Morgan hatten das Sagen. In Anlehnung an das Mittelalter wurden sie Räuberbarone genannt. Dann trat eine politische Gegenbewegung auf den Plan, die Progressiven.
Unter der Führung von Theodore Roosevelt begannen sie, die Monopole zu zerschlagen. Es war ein langer und erbitterter Kampf, aber am Schluss hatten die Progressiven Erfolg. Konzerne wie Standard Oil wurden aufgeteilt, die extreme Konzentration der Macht in wenigen Händen und die grossen Einkommensunterschiede verschwanden wieder. Wenn wir heute die Räuberbarone zurückdrängen wollen, brauchen wir ebenfalls wieder eine Art progressive Bewegung, aber auf globaler Ebene. Solange sich die einzelnen Staaten von ihnen gegenseitig ausspielen lassen, bleiben sie hilflos.