Plötzlich ist alles anders. Die Milliarden-Sorgen um die AHV: wie weggeblasen. Nimmt man das am Mittwoch vom Bundesrat verkündete Referenzszenario zum Nennwert, hat das grösste Sozialwerk der Schweiz keine Geldsorgen – falls sich die Politik rechtzeitig auf eine Lösung für die Finanzierung der 13. AHV-Rente einigt.
Das sah im Frühling noch deutlich düsterer aus. Im Mai präsentierte Innenministerin Elisabeth Baume-Schneider Eckwerte einer grossen Reform, um den «kritischen Zeitraum» zu meistern, wenn sich die Babyboomer in Rente verabschieden. «Eine solche Reform ist mit den neuesten Zahlen vom Tisch», sagt nun ihre Parteikollegin und SP-Fraktionspräsidentin Samira Marti. «Die Angriffe auf die AHV und das Rentenalter müssen endlich gestoppt werden.»
Sind die demografischen Hürden gar nicht so hoch wie befürchtet? Tatsächlich muss auch der Bundesrat über die Bücher. Ein Beispiel: Anstatt eines Defizits von 2,1 Milliarden Franken schreibt die AHV gemäss den aktualisierten Perspektiven im Jahr 2040 ein Plus von 1,3 Milliarden Franken – unter der Annahme, dass die Mehrwertsteuer wegen der 13. AHV-Rente um 0,7 Prozent erhöht wird. Drei Hauptgründe lassen die AHV gesunden: eine tiefere Lebenserwartung als ursprünglich angenommen, eine – aufgrund der Zuwanderung – jüngere Gesellschaft und eine bessere Anlagerendite.
So erfreulich die Prognosen, den Bürgerlichen kommen sie in der Rentendiskussion aktuell nicht gelegen. Sinnbildlich dafür ist ein Brief des Industrie-Verbands Swissmem vom Juli.
Direktor Stefan Brupbacher fordert darin die Nationalrätinnen und Nationalräte im Hinblick auf die nächste Sitzung der Sozialkommission dazu auf, die 13. AHV nicht vollständig zu finanzieren, sondern nur teilweise durch eine befristete Erhöhung der Mehrwertsteuer, «da ansonsten der Druck für eine grundlegende Reform inklusive längerem Arbeiten fehlt». Will heissen: Es braucht ein strategisches AHV-Loch, damit ein höheres Rentenalter irgendwann unumgänglich wird.
Von den neusten Ankündigungen lässt sich Brupbacher nicht aus der Ruhe bringen. Noch analysiere man die Szenarien, sagt er auf Anfrage. Aber: «Die Zahlen sind nur auf den ersten Blick gut – sie können nicht über die Tatsache hinwegtäuschen, dass die Überalterung zunimmt und die AHV finanziell in Schieflage geraten wird. Zudem: wie oft hat sich der Bund jetzt schon verrechnet?», fragt er rhetorisch. Brupbacher lehnt deshalb jeden zusätzlichen Ausbau und alle Finanzierungen über Lohnnebenkosten «dezidiert» ab.
Noch ist unklar, welche Dynamik die neuen Zahlen in die aktuelle Rentendebatte bringen wird. Spätestens nächste Woche wird sich dies aber ein erstes Mal zeigen. Dann trifft sich die Sozialkommission des Nationalrats, um ein Modell zur Finanzierung der 13. AHV auszubrüten. Der Vorschlag des Ständerats sieht eine Mischform zwischen höheren Lohnprozenten und stufenweiser Anhebung der Mehrwertsteuer vor. Es ist ein Mitte-Links-Deal, der gleich auch noch eine neue Initiative der Mitte einschliesst: die Abschaffung des Rentenplafonds bei Ehepaaren. Aktuell darf die Summe der Einzelrenten eines Ehepaars höchstens 150 Prozent der Maximalrente betragen. Heisst der Souverän die Initiative gut, werden weitere 3,6 Milliarden Franken fällig.
Mit Mitte-Links stimmten auch zwei FDP-Ständeräte. Doch im Nationalrat sind die Fronten verhärtet und zumindest kurzfristig rückt noch niemand von seinen Positionen ab. Der Zürcher FDP-Nationalrat Andri Silberschmidt wird in der nächsten Sitzung der Sozialkommission einen «Kompromiss» vorschlagen, wie er sagt: Der vom Volk beschlossene Rentenzustupf wird eine Mehrwertsteuererhöhung um 0,5 Prozent sowie eine schrittweise Erhöhung des Rentenalters um ein halbes Jahr finanziert.
In den verbesserten Finanzperspektiven sieht er keinen Grund, auf Reformen zu verzichten. «Die wirtschaftliche Lage ist angespannt. Ich lehne einseitige Steuererhöhungen zugunsten der 13. AHV-Rente ab.» Auch für die Mitte-Initiative hat Silberschmidt wenig übrig. Einen weiteren Ausbau hält er für verantwortungslos.
SVP-Fraktionschef Thomas Aeschi fordert derweil, dass die AHV inklusive 13. Rente ohne Lohnabzüge und Mehrwertsteuererhöhung auf ein solides Fundament gestellt wird. Persönlich steht er deshalb auch Silberschmidts Kompromissvorschlag skeptisch gegenüber. Ob für die SVP auch eine Erhöhung des Rentenalters infrage kommt, lässt der Zuger Nationalrat noch offen.
Den jüngsten Prognosen aus dem Departement Baume-Schneider misstraut Aeschi. «Sie können schon nächstes Jahr wieder ganz anders aussehen», warnt er. Die anhaltend hohe Zuwanderung verbessere die Perspektiven nur auf den ersten Blick. «Das Problem wird in die Zukunft verschoben.» Die Zuwanderer von heute seien die AHV-Bezüger von morgen.
Der Obwaldner Mitte-Ständerat Erich Ettlin war einer der Architekten, die in der Kleinen Kammer eine Lösung für die 13. AHV-Rente zimmerten. Für ihn hat die Finanzierung derselben jetzt absolute Priorität. Die rosigeren Perspektiven allein würden dafür nicht ausreichen.
Silberschmidts Vorschlag mit dem Mix aus 0,5 Prozent mehr Mehrwertsteuer und einer Anhebung des Rentenalters hält Ettlin allerdings kurzfristig für nicht umsetzbar, weil das Volk erst vor kurzem ein höheres Rentenalter abgelehnt hat.
Der Mitte-Politiker glaubt nicht, dass die Renten-Initiative seiner Partei durch die neuen Prognosen mehr Aufwind erhält. Denn die Kosten von gegen 4 Milliarden Franken seien noch nicht finanziert. Ettlin schwebt dafür das gleiche Modell vor wie für die Finanzierung der 13. AHV-Rente. Der Obwaldner Ständerat mag ob der besseren Zahlen nicht in Euphorie ausbrechen.
Für ihn ist klar: Die Politik kommt langfristig nicht darum herum, die AHV zu reformieren, weil immer weniger Arbeitnehmer immer mehr Rentner finanzieren müssen und die Lebenserwartung steigt. Ettlin kann sich vorstellen, dass auf lange Sicht auch Lösungen wie eine Lebensarbeitszeit oder ein höheres Rentenalter diskutiert werden müssen. Prognosen seien immer mit Vorsicht zu geniessen, besonders wenn sie sich auf so lange Zeiträume erstreckten. (aargauerzeitung.ch)
Nachdem sie es schon geschafft haben, dass die 13. AHV-Rente vor allem von den niedrigeren Einkommensgruppen finanziert wird, sind ihre "Argumente" und "Befürchtungen" so billig wie durchsichtig.
Mehrmals haben die Zahlen aus Bern revidiert werden müssen. Und ich meine nicht nur die AHV Prognosen.
Länger arbeiten kommt sicher nicht in Frage.