Am Nationalfeiertag pflegen Politiker salbungsvolle Reden zu schwingen und den nationalen Zusammenhalt zu beschwören. SVP-Präsident Marco Chiesa hatte anderes im Sinn. Seine online veröffentlichte Kurzansprache war eine jovial vorgetragene Hasstirade gegen die linksgrünen «Schmarotzer-Städte» mit ihren «Luxus-Linken» und «Bevormunder-Grünen».
SVP-Präsident Marco Chiesa zum 1. August 2021:
— SVP Schweiz (@SVPch) August 1, 2021
Die freie Schweiz gegen die links-grünen Städte verteidigen!https://t.co/FFnuz5wkyz
Spalten statt einen, den Stadt-Land-Graben vertiefen – man könnte die Kampfansage des Tessiner Ständerats als verzweifelten Versuch interpretieren, seinen in der Deutschschweiz nach wie vor geringen Bekanntheitsgrad zu pushen und sein schwammiges Profil zu schärfen. Aber es geht nicht einfach um Marco Chiesa, sondern um wesentlich mehr.
Seit 2016 ging es für die SVP fast nur bergab. Für die erfolgsgewohnte Partei, die selbst Niederlagen in Siege umdeuten konnte, war es eine elend lange Durststrecke. Dann kam der 13. Juni mit der Abstimmung über die Trinkwasser- und die Pestizidinitiative. Sie wurden von vielen Bauern als Provokation empfunden und versetzten die Landwirtschaft in Aufruhr.
Meine Prognose scheint sich zu bestätigen. An alle ländlichen Gemeinden der Schweiz: Erinnert Euch künftig an den heutigen Tag, welcher unser Potenzial auf wunderbare Art und Weise wiederspiegelt! Lassen wir uns von den Städten nie wieder überstimmen! 💪🏻🇨🇭 #Abst21 #CO2Gesetz https://t.co/QO8MpLG53c
— Nils Fiechter (@NilsFiechter) June 13, 2021
Die Folge war eine Mobilisierung der ländlichen Bevölkerung, wie sie die Schweiz seit Jahrzehnten nicht erlebt hat. Sie trug auch dazu bei, das CO2-Gesetz zu bodigen. Bei der SVP witterte man Morgenluft. «Lassen wir uns von den Städten nie wieder überstimmen!», twitterte Nils Fiechter, Strategiechef der Jungen SVP, noch am Abstimmungssonntag.
Dieses Potenzial will die Volkspartei nun gezielt bewirtschaften und auch im Hinblick auf die Wahlen 2023 auf ihre Mühlen lenken. Der Zürcher Nationalrat (und Banker!) Thomas Matter wurde gemäss dem «Blick» zum Dossierverantwortlichen ernannt. Schon Anfang September soll national und kantonal eine Kampagne gegen die Städte starten.
Die linksgrüne Dominanz in den Städten ist kein neues Phänomen. Die SVP aber hat das Problem, dass ihre Feindbilder nicht mehr ziehen. Zum Beispiel die Ausländer: Das Thema Zuwanderung hat an Brisanz verloren, die Asylzahlen sind tief. Auch bei der Europäischen Union ist die Luft draussen, nachdem der Bundesrat das Rahmenabkommen versenkt hat.
Er tat dies mit breiter Unterstützung von links bis rechts, womit auch die Classe politique, das liebste Hassobjekt von Christoph Blocher, als solches nicht mehr funktioniert. Also sind nun die «Schmarotzer» in den Städten an der Reihe. Umgekehrt bedeutet dies, dass die SVP faktisch die Hoffnung aufgegeben hat, dort wieder verstärkt Fuss zu fassen.
Das ist nicht ohne Risiko. So tendierten die Agglomerationen lange politisch in Richtung Landschaft. Mit der zunehmenden Urbanisierung hat eine gewisse Trendwende eingesetzt. Auch mittelgrosse Zentren wie Luzern oder St.Gallen sind nach links gerutscht. Und die Anziehungskraft des städtischen Lebens ist nach wie vor gross.
Die SVP hat oft von den Republikanern in den USA abgekupfert. Dort ist die Polarisierung der Gesellschaft grösser und der Graben zwischen den linken Städten und der konservativen Landschaft wesentlich tiefer als bei uns. Mit Donald Trump hat sich diese Entwicklung verschärft. Seine Hardcore-Fans leben überwiegend auf dem Land.
Trotz seiner offensichtlichen Unfähigkeit als Präsident war es Trump bei den Wahlen im letzten November gelungen, nochmals neue Wählerschichten zu mobilisieren und beinahe die Wiederwahl zu schaffen. Das hat in der SVP nicht nur Fans wie Roger Köppel imponiert. Mit der Anti-Stadt-Strategie ist der Trumpismus in der Schweiz angekommen.
Ob das Kalkül aufgehen wird, bleibt zumindest offen. Die Schweiz ist nicht die USA, bei uns ist die Spaltung (noch) weniger ausgeprägt. Es ist fraglich, ob die rurale Bevölkerung sich so einfach gegen die Städte aufwiegeln lässt. Die Mobilisierung am 13. Juni war der speziellen Konstellation zu verdanken, sie könnte ein einmaliges, heftiges Strohfeuer bleiben.
Die SVP zielt deshalb auf das Geld. Die dekadenten «Luxus-Linken» würden von der fleissigen und genügsamen Landbevölkerung subventioniert, lautet offenbar die Tonalität der Kampagne. Mit Vorstössen wolle sie die Abgeltung von Zentrumsleistungen wie Hochschulen und Kultureinrichtungen zusammenstreichen, schreibt der «Blick».
Die Begleitmusik lieferte der Ökonom Reiner Eichenberger in der «Sonntagszeitung»: «Die massive Subventionierung der Städte ist ein historisches Relikt, aber eigentlich längst überholt.» Allerdings fahren Landschäftler gerne in die Stadt, und die Steueroasen in der SVP-Hochburg Schwyz werben explizit mit ihrer Nähe zur Stadt Zürich um Zuzüger.
Man kann sich ohnehin fragen, wer wen finanziert: Landschaft und Berggebiete erhalten Milliarden an Ausgleichs- und Direktzahlungen, Wasserzinsen und weiteren Subventionen. Erwirtschaftet wird dieses Geld von den «Schmarotzern» im urbanen Raum. Sie kaufen die von den Bauern erzeugten Produkte (über die Grenze ist es häufig nicht weit), und sie haben im letzten Jahr den Tourismus in den Bergregionen gerettet.
Vielen Landbewohnern ist bewusst, dass sie auch von den Städten abhängig sind. Dennoch wäre in der urbanen Schweiz eine gewisse Selbstkritik angebracht. Ihr fehlt häufig das Gespür für die Realität auf dem Land. Etwas mehr Kompromissbereitschaft könnte einiges bewirken, etwa bei einer Neuauflage des Jagdgesetzes. Wenn der Spaltungsversuch der SVP scheitern soll, braucht es die Mithilfe der linksgrünen Städter.
Aber die SVP versucht hier auf recht berechnende Weise Stimmen dort abzugreifen, wo man sonst schon viel Zuspruch erhält. Und wie bereits im Text erwähnt, wer subventioniert hier wen?
Für mich als "Städter", kann mich diese Partei nun noch mehr dort küssen wo es nicht nur auf dem Land dunkel ist.
Auch für einen Chiesa gilt: Wenn man so blöd ist den Giuliani zu machen, steht man am Ende mit abgesägten Hosen da.