Der kontroverse Dramatiker Peter Handke brachte 1966 mit erst 23 Jahren ein Stück zur Uraufführung, das für Furore sorgte. Es hiess «Publikumsbeschimpfung» und war eine Attacke auf das im damaligen Deutschland noch immer stark präsente Nazi-Gedankengut. Am Ende des Sprechstücks wurde tatsächlich das Publikum im Theater beschimpft.
Handke erfüllte damit den heimlichen Wunsch vieler Bühnenkünstler, die sich über ignorante Zuschauer – und Kritiker – aufregen. Politikern geht es in dieser Hinsicht nicht besser. Sie stehen ebenfalls im Rampenlicht, und das um einiges exponierter als Schauspieler, denn sie tragen wesentlich mehr Verantwortung. Als «Dank» für ihre oft mühselige Arbeit erhalten sie häufig kritische bis unflätige Reaktionen.
Einem hat es nun «den Nuggi rausgejagt». Der Aargauer FDP-Ständerat Philipp Müller hat einen Mann zurechtgewiesen, der ihn per SMS wegen der aus seiner Sicht mangelhaften Umsetzung der Masseneinwanderungs-Initiative kritisiert hat. Und sich dabei orthografisch nicht ganz korrekt ausdrückte. «Lernen Sie mal zuerst Deutsch. Abstimmen sollte nur dürfen, wer zumindest eine Landessprache beherrscht. Sie gehören nicht dazu», erwiderte Müller laut TeleM1.
Nun stellt sich die Frage: Darf ein Politiker in einer derart schnoddrigen Art auf Kritik reagieren?
Die simple Antwort lautet: Er darf nicht. Politik ist ein hartes Geschäft, wer sich darauf einlässt, muss auch hart im Nehmen sein. Es gilt die Redensart «Man soll nicht Koch werden, wenn man die Hitze nicht erträgt». In einer Demokratie ist man als Politiker den Wählern verpflichtet. Man sollte ihnen mit Respekt begegnen, auch wenn das nicht auf Gegenseitigkeit beruht.
Viele Politiker machen auch aus ihrer Handynummer nicht unbedingt ein Staatsgeheimnis. Einige veröffentlichen sie auf ihrer Website. Und trotzdem, alles müssen sie sich nicht gefallen lassen. Das gilt gerade im Social-Media-Zeitalter, in dem die Hemmschwelle so niedrig ist wie nie zuvor. Früher erfolgten Beschimpfungen meist anonym, heute stehen die Leute mit Namen dazu.
Im konkreten Fall kommen zwei Aspekte hinzu. Bei dem Serviceangestellten, der Müller kritisierte, handelt es sich wohl um einen SVP-Sympathisanten. Die Verwendung des Begriffs «Eidgenosse» deutet darauf hin. Gerade diese Partei hat den politischen Diskurs in der Schweiz auf einen Tiefpunkt gebracht. Man muss dafür nicht einmal notorische Provokateure wie Christoph Mörgeli anführen. Es genügt, eine Ausgabe der «Weltwoche» zu lesen.
Ausweichen auf fiktive Comic-Figur zeigt nur argumentative Hilflosigkeit der @Weltwoche im Thema @NeuhausC https://t.co/x24zjZddvl @NZZaS pic.twitter.com/uXfbR1jEel
— Jean-Marc Hensch (@sosicles) 11. Dezember 2016
Roger Köppels Postille hat Philipp Müller schon seit längerem zu einem ihrer Lieblingsfeindbilder erklärt. Erst kürzlich hat ihn Köppel wieder scharf angegriffen. Worauf der FDP-Ständerat auf Facebook mit übelsten Drohungen eingedeckt wurde. Viele aus der rechtsnationalen Ecke können es offenkundig nicht ertragen, dass ausgerechnet der Mann, der einst mit der 18-Prozent-Initiative den Ausländeranteil begrenzen wollte, nun die MEI nur «verwässert» umsetzt.
Wer sich als Politiker exponiert, wird fast automatisch zur Zielscheibe von Attacken Andersdenkender. Das gilt auch für SVP-Vertreter wie Roger Köppel. In diese Kategorie gehört auch SP-Nationalrat Cédric Wermuth. «Tendenziell nehmen die Drohungen zu», sagte er der «Aargauer Zeitung». Wermuth erhält regelmässig solche der widerlichsten Sorte, was nicht einfach ist für den Vater einer kleinen Tochter. Dennoch lässt er sich nicht einschüchtern.
Die Demokratie braucht kantige Figuren wie ihn und Philipp Müller. Er ist als gelernter Gipser ohnehin ein Freund markiger Worte, was wohl schon jeder Journalist zu spüren bekam, der mit ihm zu tun hatte. Als ich ihn in diesem Frühjahr bei sich zu Hause besuchte, schnauzte er mich erst einmal an: «Sie sind drei Minuten zu früh!» Danach aber hatte ich ein sehr ergiebiges Gespräch mit ihm. Müller scheute auch kritische Fragen nicht, am fertigen Interview änderte er nur wenig.
Leute wie er sind mir als Journalist weitaus lieber als jene Politiker, die selbst im informellen Rahmen jedes Wort auf die Goldwaage legen aus Angst, sich zu exponieren. Deshalb sollte man es ihm nachsehen, wenn er einmal aus der Rolle fällt. Zumindest so lange er sich dabei auf Kritik an der Beherrschung der deutschen Sprache beschränkt und nicht selber ausfällig wird.
Denn für Kritiker der Politiker sollte der gleiche Massstab gelten wie für diese: Wer austeilt, muss auch einstecken können.