Politische Debatten in der Schweiz verlaufen manchmal kurios. Für die Europapolitik gilt dies ganz besonders. Die Bedeutung der bilateralen Verträge mit der EU wird weitherum anerkannt. Selbst SVP-Exponenten ringen sich grummelnd dazu durch. Sie wissen, wie wichtig ein möglichst ungehinderter Zugang zum europäischen Markt für unsere (Export-) Wirtschaft ist.
Nun liegt mit dem institutionellen Abkommen (InstA) ein Vertragswerk vor, das den bilateralen Weg absichern und den unerwünschten EU-Beitritt wohl auf lange Sicht ausschliessen würde. Und was passiert? Die Debatte wird von Einwänden, Bedenken und Relativierungen dominiert. Viele Medien bezeichnen das Abkommen unreflektiert als chancenlos.
In den letzten Tagen jedoch hat die Phalanx der «Ja, aber»- und Neinsager Risse bekommen. Die FDP-Bundeshausfraktion hat sich gegen den Willen des Parteivorstands für ein «Ja aus Vernunft» entschieden. Am Mittwoch veröffentlichte der «Tages-Anzeiger» ein Interview, im dem die frühere Zürcher SP-Nationalrätin Chantal Galladé ihren Wechsel zu den Grünliberalen bekanntgab.
Die GLP stehe «für eine vernünftige, lösungsorientierte Beziehung zu Europa», sagte Galladé. Sie distanzierte sich damit vom Kurs der SP beim Rahmenabkommen, der von den Gewerkschaften und ihrer kompromisslosen Haltung zu den flankierenden Massnahmen gegen Lohndumping diktiert wird. Vertreter des rechten Parteiflügels wie Galladé haben einen schweren Stand.
Ihre «Desertion» sorgte in der SP für gereizte Reaktionen. Parteipräsident Christian Levrat bemühte sich im Tamedia-Interview um diplomatische Worte: «Ich hätte mir schon eine grössere Verbundenheit mit der SP gewünscht.» Sein Ärger aber war spürbar. Chantal Galladé ist nicht der Politstar, zu dem sie teilweise hochgejubelt wird. Dennoch schmerzt ihr Abgang.
Die 46-jährige Winterthurerin politisierte 15 Jahre als SP-Mitglied im Nationalrat und wurde letztes Jahr mit Hilfe der Partei in das gut dotierte Präsidium der Kreisschulpflege Winterthur Stadt-Töss gewählt. Die Bekanntgabe ihres Parteiwechsels nur drei Wochen vor den Wahlen im Kanton Zürich hat einen unangenehmen Beigeschmack.
Heikel ist er für die SP vor allem aus einem Grund: Chantal Galladé verkörpert die urbanen, progressiven Mittelständler, aus denen die heutige SP-Wählerschaft zu einem beträchtlichen Teil besteht. Für sie basiert das hohe Lohnniveau in der Schweiz jedoch primär auf einer florierenden Wirtschaft, inklusive reibungslose Exporte in die EU, und nicht auf Baustellenkontrollen.
Die SP Schweiz ist die wohl linkste sozialdemokratische Partei in Europa. Linksliberale wählen sie häufig weniger aus Überzeugung denn aus Mangel an Alternativen. Die Grünliberalen waren das bislang nur bedingt. Auf kantonaler und kommunaler Ebene politisieren sie in der Finanz- und Sozialpolitik häufig wie eine SVP mit grünem Mäntelchen.
Der Beitritt von Chantal Galladé und anderen bekannten Köpfen könnte eine «Zuwanderung» von links auslösen und das Profil der GLP mittel- bis langfristig in diese Richtung verschieben. Das dürfte ihre heute noch beschränkte Attraktivität für eine linksliberale Wählerschaft erhöhen und zu einer ernsthaften Bedrohung für die Sozialdemokraten werden.
Europa und der Klimawandel sind zwei zentrale Themen im Wahljahr 2019. Beides kommt den Grünliberalen entgegen, die zweifellos einen Lauf haben. Chantal Galladés Seitenwechsel spricht genauso dafür wie das Ja der FDP zum Rahmenvertrag, mit dem die Befürworter deutlich gestärkt werden. Allerdings sind die Grünliberalen nicht frei von Widersprüchen.
Sie lehnen das Steuer-AHV-Paket ab, obwohl die Schweiz bei den Unternehmenssteuern gerade von der EU unter Druck gesetzt wird. Die GLP begründet ihr Nein mit dem aus ihrer Sicht zu wenig nachhaltigen AHV-Teil der Vorlage, dennoch macht sie sich angreifbar. Die GLP riskiere, «die Europapolitik der Schweiz um Jahrzehnte zurückzuwerfen», lästerte SP-Chef Levrat im Tamedia-Interview. Das ist masslos übertrieben und trifft doch einen wunden Punkt der Partei.
Die SP ist definitiv unter Zugzwang. Parteichef Levrat will die Flucht nach vorne ergreifen und mit FDP und CVP Gespräche über alle offenen Fragen im Europadossier führen. Diese bringen allerdings nichts, wenn die SP beim Lohnschutz weiter unflexibel bleibt. Ein tragfähiger Kompromiss ist unerreichbar, wenn man sich hinter roten Linien verschanzt.
Der Bundesrat will die Konsultationen zum InstA bis Mitte März abschliessen. Für einen Entscheid dürfte er sich vermutlich bis im Juni Zeit lassen, aus zwei Gründen: Im Mai wird das neue EU-Parlament gewählt und in der Schweiz über die Steuer-AHV-Vorlage sowie das neue Waffenrecht abgestimmt. Beide Vorlagen sind von grosser europapolitischer Tragweite.
Ein doppeltes Ja würde den InstA-Befürwortern genauso Rückenwind verleihen wie der Galladé-Scoop und der FDP-Entscheid. Und Voraussetzungen schaffen, um der Debatte einen positiven Dreh zu verleihen. Schwierig genug wird sie ohnehin, nicht nur wegen der SP. Die SVP wird alle Register ziehen, um das Rahmenabkommen zu versenken, unter anderem mit Standesinitiativen in sämtlichen Kantonen.